Polen, in dem es vor wenigen Wochen einen Regierungswechsel gab, ist schwer unter Beschuss geraten. Die Europäische Union und vor allem Deutschland sehen die dortige Demokratie in Gefahr und wollen das östliche Nachbarland der Bundesrepublik unter Kuratel stellen. Gewiss ist es bedenklich, die öffentlich-rechtlichen Sender der Staatsaufsicht zu überantworten und die Direktoren der TV-Anstalten fortan durch die Regierung ernennen zu lassen, aber wo ist da der große Unterschied zum Rest der EU, auch zu Deutschland? Natürlich macht man es hier anders, gibt es Gremien und Ausschüsse, sogar Stellenausschreibungen für Intendanten in Tageszeitungen, wie gerade für den RBB in Berlin geschehen, aber am Ende beraten die Parteien im Hinterstübchen, wer es wird, ob CDU oder SPD dran sind. Warum also die Aufregung?
Europa hat in den letzten Tagen stürmische Zeiten erlebt, und das wegen eines kleinen Mitgliedslandes mit geringer Wirtschaftskraft. Angesichts der Krisen, die es um die EU herum gibt, fragt man sich, wie groß die Belastungsfähigkeit der Europäer tatsächlich ist. Denn in Wirklichkeit ist es in Brüssel nicht nur um Griechenland gegangen, sondern auch um das deutsch-französische Tandem, das weiterhin als vital für die Gemeinschaft angesehen wird. Und wenn man ehrlich ist, muss man zu dem Befund kommen, dass die Deutschen und die Franzosen bei dem Verhandlungspoker lange Zeit in gegensätzliche Richtungen gefahren sind.
Stärker denn je ist deutlich geworden, dass es eine Allianz von „nordischen“ Staaten gibt, die von Deutschland angeführt wird und eine Interessengemeinschaft der Mittelmeeranrainer. Frankreich liegt zu zwei Dritteln in deutlicher Entfernung zum Mittelmeer. Dennoch fühlen sich die Franzosen in Wirtschafts- und Haushaltsfragen ihren Nachbarn im Süden – und damit auch Griechenland – stärker verbunden als dem Norden. Der ist in ihrer Sicht zu protestantisch, zu nüchtern, und er setzt auf Haushaltsdisziplin, auf Sparen, um aus den roten Zahlen herauszukommen. Das griechische Drama wird weitergehen, oder wie es ein Wirtschaftsexperte formulierte: „Wie in einem guten Krimi kehren die Gespenster am Ende wieder zurück“.
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Vor einigen Tagen saß ich in München in einem Café, neben mir ein jüngerer, italienisch aussehender Mann mit seinem Sohn. Unsere Blicke kreuzten sich, ich spürte ein Interesse, zu akzeptierende Neugier, irgendwann kamen wir miteinander in ein sehr nettes, lebhaftes Gespräch. Der Mann stellte sich als ein Deutscher türkischer Abstammung heraus. Er war Unternehmer. Sehr schnell landeten wir bei unseren Familiengeschichten. Ich fragte ihn nach der türkischen Region, aus der seine Eltern einst nach Westen aufgebrochen waren und mein Tischnachbar erzählte mir, dass die Familie eigentlich aus Bagdad komme. Und ein wenig stolz fügte er hinzu, dass sie vom Kalifen Ali, einem Cousin des Propheten, direkt abstamme.
Auf einer meiner letzten Reisen nach Istanbul begegnete ich Reisegruppen aus Griechenland. Sie machten auf mich den Eindruck von armen Verwandten. Die Lautstärke, mit der sie sich unterhielten, verriet Unsicherheit, ja Unwohlsein. Im Vergleich zum Stadtzentrum von Istanbul wirkt der Innenbereich von Athen, abgesehen vom Syntagma-Platz mit dem Parlament, das jedes zweijährige Kind von der Fernsehberichterstattung der letzten Monate her mittlerweile kennt, geradezu ärmlich. Die Griechen sind große Überlebenskünstler. Keine Statistik erfasst wirklich, wie es ihnen geht. Denn sie sind nicht nur die Bewohner eines Reiches von Inseln, sondern haben viele Kontakte auf der ganzen Welt.
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Die Türkei ist in den letzten Tagen und Wochen wegen eines Themas international unter Beschuss geraten, dem sie sich stellen muss, früher oder später. Es geht um den Völkermord an den Armeniern vor 100 Jahren, eines der vielen fürchterlichen Kapitel des vergangenen Jahrhunderts, das mit Vertreibung und Mord in Europa und in den Kolonien der damaligen großen Mächte begann und bis 1945 anhielt. In den aufgeregten Diskussionen der letzten Tage ging ein wenig unter, dass der türkische Staatspräsident nach einer vorausgegangenen Erklärung des Ministerpräsidenten den Enkeln der 1915 von Massakern betroffenen Menschen sein Beileid ausgesprochen hat. Das war nicht unbedingt zu erwarten, normalerweise reagiert Erdoğan nicht auf Druck.
Auf einer meiner ersten USA-Reisen ging ich vor über 30 Jahren in Washington in ein Museum, von dem ich annahm, dass es u.a. die Geschichte der Indianer zeigen würde, ihren heroischen Kampf um ihre angestammten Territorien und ihr weitgehendes Verschwinden aus der amerikanischen Gesellschaft. Ich suchte vergeblich, es sollte noch einige Zeit dauern, bis die Nachfahren der Apachen, der Navajos und der Sioux in der großen grünen Achse von Washington zwischen Lincoln Memorial und Kapitol ihr Museum bekamen. Die Diskussion über ihre Vertreibung, das begangene Unrecht und die Art und Weise, wie man symbolische Widergutmachung betreiben kann, geht in den Vereinigten Staaten natürlich weiter. Aber solche Diskussionen, eine solche schmerzhafte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit erfordern Geduld und – Zeit.
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Die Nachricht vom Absturz des vollbesetzten Airbus des Lufthansa-Tochterunternehmens Germanwings war schon fürchterlich genug, aber die Erklärung, wie es dazu kam, hat dem Ereignis eine zusätzliche Dimension gegeben. Die Debatten werden noch lange Zeit andauern, aber schon jetzt lassen sich ein paar Beobachtungen rund um die Tragödie in den südfranzösischen Alpen machen und in der Folge Gedanken anstellen.
Da ist zunächst der Betroffenheitstourismus der Politiker festzuhalten, die Anreise des deutschen Außenministers und des Verkehrsministers zu einem Zeitpunkt, zu dem alle Hilfskräfte vor Ort, alle Hubschrauber für die Bergungsaktion benötigt werden. Es riecht nach Wahlkampf. Da fallen neben der Blitzreise zum Unglücksort am Tage danach die sorgfältig inszenierten Auftritte der Bundeskanzlerin ins Auge, während andere europäische Spitzenpolitiker spontan, ohne ein Blatt Papier ihr Beileid ausdrückten, wie der unlängst ins Amt gekommene junge spanische König bei seinem Staatsbesuch in Paris, der unmittelbar nach Bekanntwerden des Unglücks abgebrochen wurde.
Wie sehr sich die Verhältnisse bei großen Unglücken im Laufe der Jahre verändert haben, lässt sich bei einem Vergleich mit einem Zugunglück ermitteln, bei dem im Mai 1971 im Sauerland über 40 Schulkinder ums Leben kamen. Photos von der Schule wurden damals im Fernsehen nicht gezeigt, das betroffene Bundesland Nordrhein-Westfalen rief einen Tag der Trauer aus, und der damalige Bundeskanzler Willy Brandt und der zuständige Verkehrsminister kamen sechs Tage später zu der Beerdigung der Toten, ein würdiges Großereignis, an dem neben den beiden Spitzenpolitikern aus dem nahen Bonn 10.000 Menschen teilnahmen.
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Wenn man durch die Straßen von New York läuft, fallen einem sogleich die Feuertreppen auf, die an den Flanken der Häuser angebracht sind, sich mitunter aber auch an jener Hauswand…
Die Debatten in Deutschland verlaufen aufgeregt. Eine Wohlstandsgesellschaft, die von keinen allzu großen Sorgen geplagt wird, neigt zu Übertreibungen, zu obsessiver Beschäftigung mit Themen, die kommen und gehen. Die Politik befindet sich in der Winterpause, umso mehr beherrschen sogenannte „Experten“ die öffentlichen Debatten. Zu dem einen großen Thema, das die Republik seit Wochen beschäftigt, Stichwort Pegida, ist beinahe alles gesagt worden, zu einem anderen erstaunlich wenig, nämlich wie es mit der Türkei weitergehen wird.
Ungläubig, wie im Falle von Putins Russland, verfolgen wir die Entwicklung, die das Land nimmt, dessen Megacity Istanbul – die größte Stadt des Kontinents – den Brückenschlag zwischen europäischer und nahöstlicher Welt versinnbildlicht. Die Silhouette der Stadt wird von Besuch zu Besuch westlicher, während die türkische Politik diesem Teil der Welt zunehmend den Rücken kehrt. Gewaltenteilung, demokratische Rechte, die Unabhängigkeit der Presse, haben in der Türkei in den letzten eineinhalb Jahren stark gelitten. Aber noch sind Einsicht, Umkehr möglich. Aber dringen entsprechende Signale an das Ohr des Mannes, der sich selbst in den Sattel gesetzt und mit einem geradezu märchenhaften Palastbau sich zu Lebezeiten ein Denkmal für die Ewigkeit geschaffen hat?
Für Europa, den Nahen Osten – die Türkei in der (goldenen) Mitte – haben sich im letzten halben Jahr – genauer gesagt seit den Olympischen Winterspielen in Sotschi – die Verhältnisse dramatisch verändert. Die Europäer verdrängen bislang die Konsequenzen, die Türkei unter dem soeben ins Amt eingeführten Staatspräsidenten Erdoğan auch, und im Nahen Osten bezahlen Millionen von Menschen das Versagen der Politik. Die Hälfte der syrischen Bevölkerung befindet sich auf der Flucht. Die Türkei liegt nebenan.
Als einzige nicht gerade zur Beruhigung beitragende Konstante stellt sich mittlerweile heraus, dass die Supermacht Amerika nicht länger bereit ist, Ordnungsmacht zu spielen. Die Grenzziehungen, die nach dem 1. Weltkrieg stattgefunden haben – in Osteuropa und im Nahen Osten – werden auf brutale Weise in Frage gestellt, eine Reihe von Staaten drohen zu scheitern oder befinden sich bereits in der Auflösung wie der Irak und Syrien. Wer das nicht sehen will oder verdrängen möchte, sei an dieser Stelle daran erinnert, dass Jugoslawien bereits vor 25 Jahren gescheitert ist. An seine Stelle sind acht Staaten getreten. Bundeskanzlerin Merkel versuchte kürzlich, bei einer Konferenz in Berlin die Nachfolgestaaten davon zu überzeugen, dass sie zur Zusammenarbeit verdammt sind. Aber die Gräuel und erlittenen Verletzungen der Bürgerkriege müssen in den Köpfen erst einmal überwunden werden. Brücken und Straßen lassen sich auf dem Balkan, aber nicht nur dort, leichter reparieren.
Bei nahezu allen Ereignissen, die sich in diesen Tagen im Nahen und Mittleren Osten sowie der neuen Erdbebenzone Ukraine abspielen, gilt Amerika als der Verantwortliche oder Schuldige für die Zuspitzung der Situation. Dies gilt ebenso für die dramatisch veränderte Lage im Irak. Aber eine derartige Argumentation greift viel zu kurz. Was die Deutschen und die Europäer verdrängen, ist, dass nahezu alle Grenzziehungen nach dem Ende des 1. Weltkrieges sich als nicht stabil erwiesen haben. Nach knapp 100 Jahren bäumt sich die Geschichte gegen papierne Lösungen auf. Oder anders formuliert: anstelle des Osmanischen Reiches und der österreichisch-ungarischen Donaumonarchie ist keine neue, dauerhafte Staatenwelt getreten. Auf dem Balkan hat sich die große Eruption vor 25 Jahren ereignet, als Jugoslawien in einer Reihe von Sezessionsbewegungen endete. Nun scheint dasselbe im Irak bevorzustehen.
Wer nach Fehlentwicklungen und verhängnisvollen Weichenstellungen sucht, wird auch nicht umhinkommen, zu konstatieren, dass der Sturz des Schah-Regimes im Iran und die Machtübernahme der Mullahs vor mehr als 30 Jahren einen erheblichen Anteil an der heutigen Situation in dem von Zerfall bedrohten Land und seinen Nachbarstaaten hat. Wenn man so will, ist damals der Großversuch gescheitert, im Raum zwischen Mittelmeer und Asien einen Staat mit einer funktionierenden Mittelschicht zu organisieren. Derartiges gibt es nur in Israel und mit Abstrichen – die man aufgrund der Ereignisse der letzten Monate vornehmen muss – in der Türkei.
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