Die Globalisierung schreitet voran und erfasst immer weitere Bereiche. Längst ist die Politik davon betroffen, das handelnde Personal muss fast in Echtzeit auf neu hinzutretende Ereignisse reagieren, die sozialen Medien sorgen auf ihre Weise für zusätzlichen Druck. Kaum ein prominenter Politiker kommt ohne Twittern aus. Bildlich gesprochen, befinden wir uns in Prozessen, in mächtigen Strömen wieder, die uns mitreissen, gegen die sich auch die Politik nicht stemmen kann, weil sie kaum noch Zeit hat, Positionsbestimmungen vorzunehmen. Sie reagiert, das Tempo der Weltgeschichte ist – zumindest momentan – zu hoch.
Dies ist ein schwarzer Tag für Europa. Das Mutterland der Demokratie hat sich entschieden, die Europäische Gemeinschaft zu verlassen. Es stürzt die EU damit in eine Krise, deren Ausgang völlig offen ist. Momentan spricht leider mehr dafür, dass dies der Beginn eines Erosionsprozesses sein wird und nicht die Stunde, in der sich der Rest der Gemeinschaft dazu aufrafft, die Krise als Chance zu nutzen.
Großbritannien hat damit seine historisch bedingte Sonderolle als Inselreich in Sichtweite von Europa bestätigt. Es hat Nein zu Europa gesagt, obwohl es mittlerweile durch den Tunnel unter dem Ärmelkanal mit dem Festland verbunden ist und wirtschaftlich von der EU-Mitgliedschaft enorm profitiert hat. Aber wie das Ergebnis zeigt, sind die Briten nicht nur die vielkritisierte Nation von Kaufleuten, Händlern und Bankern, sondern auch Menschen mit Emotionen, deren Traum das Leben auf dem Lande ist. Und genau dieser ländliche Raum war zusammen mit den Universitätsstädten wahlentscheidend. Großbritannien hat ein Bekenntnis zum Nationalstaat abgeliefert, es glaubt an ihn, es lehnt die Bevormundung durch Brüssel ab, und es nimmt Wohlstandsverluste in Kauf. Die Londoner City, der große Arbeitgeber der Hauptstadt und des wohlhabenden Südenglands ist seit Freitagmorgen nicht mehr der Ort, der er bis zum Vorabend war.
Weiterlesen Nein zur Bevormundung durch Brüssel: War’s das für die EU?
Es ist gut, dass die Fußball-Europameisterschaft beginnt, gut für den in Depression befindlichen Gastgeber, gut für Deutschland und gut für die Türkei. Vieles läuft zur Zeit schief im Erdoğan-Land, aber auch Manches in der Bundesrepublik. Wie zu befürchten war, hat die Armenien-Resolution des Deutschen Bundestages die Debatten nicht beendet, sondern angefeuert. Nur der Fussball scheint zur Zeit in der Lage, für andere Themen zu sorgen. Denn im Grunde genommen kennt Deutschland seit September letzten Jahres nur zwei: die Flüchtlingsproblematik und die Beziehung zum „Schlüsselland“ Türkei, wie es die Kanzlerin formuliert hat. Nach dem Schlüssel wird vor allem in Berlin Tag für Tag gesucht. Allem Anschein nach ist er vor der kleinasiatischen Küste im Meer versunken, die Chancen, ihn zu finden, sind immer noch da, aber sie sind gering. Nun muss alles dafür getan werden, dass Vernunft und Augenmaß in den Diskussionen herrscht oder wieder einzieht.
In Berlin gab es Ende der 1920er Jahre eine Gesangsgruppe mit dem Namen „Comedian Harmonists“. Sie bestand aus vorzüglichen Stimmen, aber das Geheimnis ihres Erfolges bestand unter anderem darin, dass niemand so laut sang, wie er es eigentlich vermochte. Dadurch entstand ein besonders eingänglicher Sound, der bis zum heutigen Tag den Hörer begeistert. Alt und Jung liebt diese Musik. Die Nationalsozialisten beendeten übrigens den Welterfolg des Ensembles. Es fiel auseinander, weil es mehrere jüdische Mitglieder hatte, denen ein Berufs- und Auftrittsverbot erteilt wurde.
Weiterlesen Mezza Voce: Was politischen Debatten in Deutschland manchmal fehlt
Es gibt Anlass zu feiern, in ganz Deutschland, speziell aber im Stuttgarter Raum, der Gegend Deutschlands, in der die Nachfahren der türkischen Gastarbeiter weitgehend in der Mehrheitsgesellschaft angekommen sind. In Stuttgart ist mit Muhterem Aras die erste Deutsche mit türkischen Wurzeln zur Parlamentspräsidentin gewählt worden. Die Vita der aus einer kurdisch-alevitischen Familie stammenden Politikerin der Grünen liest sich wie eine der vielen Geschichten, wie sie heute für viele Deutsch-Türken typisch ist: der Vater Schafszüchter in Anatolien, die Mutter mit wenig bis kaum Schulbildung und dann diese unglaubliche Erfolgsgeschichte binnen einer Generation, gepflastert mit jeder Menge Hürden, also nicht gleich das Gymnasium, sondern die Hauptschule, dann die Wirtschaftsschule, das Studium und eine Steuerkanzlei mit einem Dutzend Mitarbeiter. Lässt das nicht hoffen, ist das nicht Anlass zu größtem Optimismus? Beifall für Muhterem Aras, aber bitte von allen Abgeordneten im Stuttgarter Landtag!
Weiterlesen Licht und Schatten aus London, Stuttgart und Bayern
Bis zum letzten Sommer war die Welt in Ordnung. Viele Neubürger, die in den letzten 50 Jahren nach Deutschland kamen, glaubten dieses Land zu kennen – mich eingeschlossen. Ich kam als Kind von Flüchtlingen über Dänemark nach Deutschland. Meine Familie hatte wegen Hitlers Krieg ihre ostpreußische Heimat verloren, mein Geburtsort liegt im heutigen Russland. Dann kam die Öffnung der Grenzen, hunderttausende von Menschen strömten in dieses Land, weil Bundeskanzlerin Angela Merkel es so wollte.
Vieles wird sich dadurch in Deutschland verändern, und wenn mein Eindruck nicht täuscht, fragen sich vor allem diejenigen, die sich in den letzten 20 Jahren für Deutschland entschieden haben, was aus dem Land werden wird. Und sie fragen auch – wie nahezu alle – warum Merkel die Grenzen geöffnet hat und warum diese „Willkommenskultur“ einsetzte, die es weder für die eigenen Landsleute 1945 gab, die vom Osten nach Westen flohen noch für die Gastarbeiter, die vor einem halben Jahrhundert aus Anatolien hierher kamen. Was ist mit den Deutschen passiert, warum ticken Angela Merkel und viele ehrenamtliche Helfer so? Warum glauben sie die Welt retten zu können, obwohl auch die Möglichkeiten der mächtigen Wirtschaftsnation Bundesrepublik begrenzt sind?
Weiterlesen Wer hat die Deutschen zu Lehrmeistern Europas gemacht?
Die Deutschen haben viele Stärken, besonderer Humor oder das Talent zum Komiker gehören nicht dazu. Umso erstaunlicher ist der Zuwachs an Satiresendungen im deutschen Fernsehen während der letzten Jahre. Aber Masse hat nicht unbedingt Klasse zur Folge. Da kann man noch immer sehr viel von England oder den USA lernen. Die für meine Begriffe talentierteste deutsche Komikerin, Anke Engelke, hat bezeichnenderweise ihre Jugend in Nordamerika verbracht. Das, was sie dort erlebte und aufsog, hat sie auf eine intelligente Weise nach Deutschland befördert. Aber eine Helene Fischer wird sie, was ihre Popularität angeht, deswegen noch lange nicht.
Weiterlesen Satire in Deutschland: Humor gehört nicht zu den Stärken der Deutschen
Das Bild, das sich nach einer 2 000 Kilometer umfassenden Reise durch Marokko am stärksten einprägt, ist das der Schulkinder. Schon am späten Vormittag sieht man sie in großen Scharen entlang der Straßen, die Dörfer und kleine Städte zumeist schnurgerade durchschneiden. Aber auch auf den Überlandstraßen sind die Kinder unterwegs, oft weit fernab von Häusern und öffentlichen Einrichtungen. Im Vergleich zum letzten Besuch, der einige Jahre zurückliegt, besitzen nun viele ein Fahrrad, aber man kommt auch durch Gegenden, in denen alle zu Fuß unterwegs sind. Da Klassenraum in Marokko ein knappes Gut ist, befinden sich auffällig viele Kinder auf dem Schulweg, die einen nach Beendigung des Unterrichts nach Hause, die anderen dorthin, um den frei gewordenen Klassenraum zu übernehmen.
Es ist schon bemerkenswert, wie man den Ausgang von drei Landtagswahlen interpretieren kann, bei denen es um ein einziges Thema ging, das Deutschland seit dem letzten Sommer umtreibt. Der Befund ist daher klar: Es war eine krachende Niederlage für die Große Koalition in Berlin, denn knapp zwanzig Prozent von rund 64 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland konnten am Sonntag ihre Stimme abgeben. Ein Votum für die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin war es gewiss nicht. Viele haben einer Partei, die es erst seit kurzem gibt, über die wenig bekannt ist, einen Blankoscheck ausgestellt, und die anderen haben charismatische Führungspersönlichkeiten gewählt, in der Hoffnung, dass sie „es richten werden“, wie man in Baden-Württemberg so schön sagt.
Für alle, die sich Sorgen über den Kurs des Landes machen, lautet die beruhigende Nachricht, dass die Bundesrepublik eine stabile Demokratie ist und bleibt. Die Parteien haben es weiterhin in der Hand, mit einer vernünftigen Politik die Wähler für sich zu gewinnen und auch jene zurückzugewinnen, die jetzt in eine Protesthaltung übergewechselt sind und die AfD gewählt haben. Aber es kann nur davor gewarnt werden, die AfD als eine rechtsradikale Partei anzusehen, die – wie Außenminister Steinmeier gerade sagte – dem Ansehen der Bundesrepublik in der Welt schade. Solange die aktuelle Flüchtlingsproblematik anhält und die Regierung Merkel in ihr hilflos wirkt, wird sich am Zulauf zur AfD nichts ändern. Im Gegenteil, mit ihrem allgemeinen Palaver nach den Wahlen befinden sich CDU und SPD auf dem besten Weg, die AfD bei den kommenden Wahlen in diesem Jahr noch größer zu machen.
Weiterlesen Nicht die AfD, sondern die Türkei und Syrien bestimmen das Schicksal der Kanzlerin
In den Jahren, als es den Zeitungen noch gut ging, hatte ich das Glück, an einer Reihe von Plätzen auf der Welt große Zeitungshäuser und Redaktionen zu besuchen. Zwei davon sind mir in besonderer Erinnerung geblieben, ein Tag bei der New York Times in Manhattan, in dem gigantischen Newsroom und zwei Besuche bei der Tageszeitung Zaman in Istanbul. Ein vergleichbares Verlagszentrum, das eine derartige Klasse und Modernität ausstrahlt – man muss heute wohl sagen: ausstrahlte – gibt es in Deutschland nicht. Wenn man durch die Flure des Hauses ging, in denen täglich eine Zeitung mit einer verkauften Auflage von über 1 Millionen Exemplar entstand, gewann man rasch den Eindruck von einer Avantgardeveranstaltung der Türkei. An keinem anderen Ort in Istanbul war man sich so sicher, dass sich das Land auf dem Weg in eine Moderne befand, in der die großen Zukunftsaufgaben der im Aufbruch befindlichen Türkei gelöst würden. Zaman stand für die türkische Zivilgesellschaft, für eine neue Generation mit hervorragender Ausbildung, Westorientierung, mit Internationalität, die die leitenden Redakteure des Hauses perfekt verkörperten. Aber nicht nur das, bei Zaman wurde an etwas geglaubt, der Gebäudekomplex verströmte Kraft, Dynamik.
Weiterlesen Mein letzter Besuch in der Zaman-Redaktion in Istanbul
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