Das Bild, das sich nach einer 2 000 Kilometer umfassenden Reise durch Marokko am stärksten einprägt, ist das der Schulkinder. Schon am späten Vormittag sieht man sie in großen Scharen entlang der Straßen, die Dörfer und kleine Städte zumeist schnurgerade durchschneiden. Aber auch auf den Überlandstraßen sind die Kinder unterwegs, oft weit fernab von Häusern und öffentlichen Einrichtungen. Im Vergleich zum letzten Besuch, der einige Jahre zurückliegt, besitzen nun viele ein Fahrrad, aber man kommt auch durch Gegenden, in denen alle zu Fuß unterwegs sind. Da Klassenraum in Marokko ein knappes Gut ist, befinden sich auffällig viele Kinder auf dem Schulweg, die einen nach Beendigung des Unterrichts nach Hause, die anderen dorthin, um den frei gewordenen Klassenraum zu übernehmen.
In der Straße, in der ich in den 1950er Jahren groß wurde, herrschte lange Zeit Stille, vorbeifahrende Autos hörte man schon von weitem. Dann gab es eines Tages einen Auflauf der Kinder, die einen stahlblauen VW-Käfer mit kleinem Rückfenster und Blinkleuchten, die aus dem Chassis herausklappten, umringten. Der Nachbar hatte das Fahrzeug erstanden, er war der erste Autobesitzer in unserem Straßenabschnitt. Und es gehörte zum samstäglichen Ritual, das Fahrzeug zu putzen und zu wienern. Auch dabei schauten wir zu. Einen VW, so träumten wir, wollten wir eines Tages auch besitzen.
Kurz vor der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, als Deutschland im Begriff stand, Großbritannien als führende Wirtschaftsnation zu überholen, kam der Begriff „Made in Germany“ auf. Die Engländer führten ihn ein, zur Abwehr vermeintlich billiger deutscher Importware. Die Ironie der Geschichte will es, dass heutzutage jeder Deutsche auf dieses ‚Made in Germany‘ stolz ist. Die ursprüngliche Bedeutung ging verloren. Dieses Gütesiegel ist vielleicht das geheime Markenzeichen der Nation.
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Am Anfang waren es Zufallsbegegnungen, dann entstanden erste Einschätzungen, Eindrücke, Nachhaltiges. In den zurückliegenden acht Jahren ist daraus eine dauerhafte Beziehung zu den Deutschtürken geworden, meinen neuen Freunden. Gewiss kann ich nicht für alle Menschen sprechen, die im Zeitraum der letzten 50 Jahre eine zweite Heimat in Deutschland gefunden haben, aber doch für viele. Vor allem in den letzten zwei Jahren hat es Hunderte von Begegnungen auf meinen nahezu 30 Lesereisen mit einem Buch, in dem es um Bildung und Schule geht, quer durch die Republik gegeben. Wie auf einem Skizzenblock möchte ich im Folgenden einige der Eindrücke festhalten.
Ich begegne Menschen, die hoch verlässlich sind. Ich sehe bei Veranstaltungen in Berlin mittelständische Unternehmer, die sich den Tag über dafür abrackern, um Umsätze zu erzielen, die ihren Familien und den Angestellten ein sicheres Auskommen ermöglichen. Die gleichen Menschen sehe ich bei Abend- und Wochenendveranstaltungen, wenn es um Bildungspolitik geht, um eine bessere Zukunft für Kinder und Enkel. Und wenn eine Schule tatkräftige Unterstützung benötigt, wenn es darum geht, einen Schulraum anzustreichen, Möbel zu transportieren, Stände bei einer öffentlichen Veranstaltung aufzubauen und zu bedienen, sind diese Unternehmer auch da. Natürlich kann man sie auch ansprechen, um Spendengelder zu erhalten. Gleiches gilt für andere Unterstützerkreise, die sich rund um die Schulen gebildet haben. In Stuttgart sagte mir ein Schulmanager, dass er binnen einer Stunde 50 Personen mobilisieren könne, um ein praktisches Problem zu lösen.
Weihnachten, normalerweise das große, besinnliche Familienfest, wird für viele Menschen in diesem Jahr einen anderen Verlauf nehmen. Sie müssen sich Sorgen machen. Denn zu den Ländern, aus denen beunruhigende Nachrichten kommen, zählt seit Neuestem auch die Türkei. Die Zukunft unabhängiger Medien steht dort auf dem Spiel, die Jobs der Kollegen sind in Gefahr, eine nicht unbeträchtliche Zahl von türkischen Journalisten wird sich über Weihnachten im Gefängnis befinden, unter ihnen Menschen, denen ich in den letzten Jahren begegnet bin. Ich teile mit ihnen das Verständnis von unserem Beruf, ich sehe die Welt wie sie. Und ich weiß aus der deutschen Erfahrung, dass der Verlust der Pressefreiheit in der Regel schwerwiegende Konsequenzen hat.
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Die Freunde und Anhänger von Fethullah Gülen haben zweieinhalb Jahre hinter sich, die es in sich hatten. Ein polemischer SPIEGEL-Artikel im Sommer 2012 hatte eine Flut von Beiträgen im Fernsehen, im Hörfunk und in Tageszeitungen zur Folge, gegen die die Dialogvereine, die Schulen und im öffentlichen Rampenlicht stehende Personen und Unterstützer mit Mühe ankämpften. Von einer Geheimorganisation, von einer Unterwanderung der Gesellschaft mit dem Ziel, Deutschland in eine islamische Republik zu verwandeln, war die Rede. Interessanterweise beteiligten sich die beiden führenden deutschsprachigen Tageszeitungen nicht an diesem Kesseltreiben: die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Neue Zürcher Zeitung.
Spätestens im zurückliegenden Sommer wurde deutlich, dass sich die Kampagnen mit Text- und Bildmanipulationen, mit Zitat-Fälschungen und unrichtigen Behauptungen erschöpft haben. Und dafür gibt es drei Ursachen: die veränderte Situation in der türkischen Innenpolitik, die eine differenziertere Betrachtungsweise erfordert, das Erscheinen von wissenschaftlichen Beiträgen und Büchern über die Rolle der Gülen-Bewegung in Deutschland, voran eine Studie der renommierten Denkfabrik ‚Wissenschaft und Politik‘ (SWP) in Berlin und schließlich die erlösende Nachricht aus Stuttgart, dass die Gülen-Bewegung vom Verfassungsschutz nicht beobachtet werde. Es gebe keinen Grund dazu.
Von dem Schriftsteller und Nobelpreisträger Günter Grass stammt der Satz, wonach der Fortschritt eine Schnecke sei. Das gilt für viele Bereiche, auch das Zusammenleben und Zusammenwachsen von Gesellschaften. Aber mitunter kommt es zu Überraschungen, bewegen sich die Dinge schneller als gedacht.
Die Freunde und Anhänger der Hizmet-Bewegung haben schwere Zeiten hinter sich. Die letzten Jahre waren nicht einfach. Obwohl sich in der Kommunikation nach innen und außen viel getan hat, kämpfen die Dialogvereine und Schulen gegen viele Vorurteile an. Anstatt auf florierende und gut funktionierende Bildungseinrichtungen zu schauen, die es oft genug in unmittelbarer Nachbarschaft gibt, wird bei neuen Schulinitiativen so getan, als handele es sich um einen einmaligen Vorgang, der gründlich durch die Politik, die Behörden und natürlich den Verfassungsschutz überprüft werden müsse.
Die öffentliche Wahrnehmung der Hizmet-Bewegung in Deutschland leidet unter mehreren Handicaps: Wissen um die Türkei, den Islam und Gruppierungen der Deutsch-Türken in der Bundesrepublik sind gering. Vorurteile lassen sich rasch mobilisieren.
In den Medien sind mittlerweile Netzwerke erkennbar, die es erlauben, mit hoher Präzision das Zusammenspiel einer Handvoll von Aktivisten zu identifizieren, die sich bei ihrer Kritik an der Hizmet-Bewegung in Deutschland auf einige wenige „Kronzeugen“ berufen – und fast immer sind es die gleichen. Der bekannteste von ihnen dürfte Friedmann Eißler sein, wissenschaftlicher Referent an der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin. Kaum jemand kennt den promovierten Theologen, der sich als Islamexperte bezeichnet und sich seit einigen Jahren speziell mit der Hizmet-Bewegung befasst.
Bei Veranstaltungen oder in den Dialogkreisen der Bewegung ist Eißler bislang genauso wenig in Erscheinung getreten wie in Schulen oder an anderer Stelle, an denen sich die Chance bieten würde, aus erster Hand Näheres über den Kreis der Anhänger Gülens in Erfahrung zu bringen. Dafür taucht Eißler in beinahe jedem kritischen Zeitungsartikel und als Interviewpartner in Hörfunksendungen der ARD über die Hizmet-Bewegung auf.
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Wie würden Eltern und Lehrer an Ihrer örtlichen Grundschule reagieren, würden Journalisten ohne Erlaubnis auf das Gelände eindringen, filmen und Kinder zu Stellungnahmen drängen? Für deutsch-türkische Privatschulen ist das mittlerweile…
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Weder Geld noch mehr Staat kann die Qualität des Schulwesens verbessern. Am Ende zeichnen sich die qualitativ guten Schulen dadurch aus, dass Eltern, Schüler und Lehrer zusammenwirken und auch mal…
In der Bundesrepublik vollzieht sich gegenwärtig eine kleine Bildungsrevolution im Stillen. Deutschtürken gründen Privatschulen, an der Spitze der Bildungsinitiative stehen die Gülen-Anhänger. Hervorgegangen sind diese Schulen mit Standorten in Berlin,…
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