Es ist gut, dass die Fußball-Europameisterschaft beginnt, gut für den in Depression befindlichen Gastgeber, gut für Deutschland und gut für die Türkei. Vieles läuft zur Zeit schief im Erdoğan-Land, aber auch Manches in der Bundesrepublik. Wie zu befürchten war, hat die Armenien-Resolution des Deutschen Bundestages die Debatten nicht beendet, sondern angefeuert. Nur der Fussball scheint zur Zeit in der Lage, für andere Themen zu sorgen. Denn im Grunde genommen kennt Deutschland seit September letzten Jahres nur zwei: die Flüchtlingsproblematik und die Beziehung zum „Schlüsselland“ Türkei, wie es die Kanzlerin formuliert hat. Nach dem Schlüssel wird vor allem in Berlin Tag für Tag gesucht. Allem Anschein nach ist er vor der kleinasiatischen Küste im Meer versunken, die Chancen, ihn zu finden, sind immer noch da, aber sie sind gering. Nun muss alles dafür getan werden, dass Vernunft und Augenmaß in den Diskussionen herrscht oder wieder einzieht.
Es gibt Anlass zu feiern, in ganz Deutschland, speziell aber im Stuttgarter Raum, der Gegend Deutschlands, in der die Nachfahren der türkischen Gastarbeiter weitgehend in der Mehrheitsgesellschaft angekommen sind. In Stuttgart ist mit Muhterem Aras die erste Deutsche mit türkischen Wurzeln zur Parlamentspräsidentin gewählt worden. Die Vita der aus einer kurdisch-alevitischen Familie stammenden Politikerin der Grünen liest sich wie eine der vielen Geschichten, wie sie heute für viele Deutsch-Türken typisch ist: der Vater Schafszüchter in Anatolien, die Mutter mit wenig bis kaum Schulbildung und dann diese unglaubliche Erfolgsgeschichte binnen einer Generation, gepflastert mit jeder Menge Hürden, also nicht gleich das Gymnasium, sondern die Hauptschule, dann die Wirtschaftsschule, das Studium und eine Steuerkanzlei mit einem Dutzend Mitarbeiter. Lässt das nicht hoffen, ist das nicht Anlass zu größtem Optimismus? Beifall für Muhterem Aras, aber bitte von allen Abgeordneten im Stuttgarter Landtag!
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Bis zum letzten Sommer war die Welt in Ordnung. Viele Neubürger, die in den letzten 50 Jahren nach Deutschland kamen, glaubten dieses Land zu kennen – mich eingeschlossen. Ich kam als Kind von Flüchtlingen über Dänemark nach Deutschland. Meine Familie hatte wegen Hitlers Krieg ihre ostpreußische Heimat verloren, mein Geburtsort liegt im heutigen Russland. Dann kam die Öffnung der Grenzen, hunderttausende von Menschen strömten in dieses Land, weil Bundeskanzlerin Angela Merkel es so wollte.
Vieles wird sich dadurch in Deutschland verändern, und wenn mein Eindruck nicht täuscht, fragen sich vor allem diejenigen, die sich in den letzten 20 Jahren für Deutschland entschieden haben, was aus dem Land werden wird. Und sie fragen auch – wie nahezu alle – warum Merkel die Grenzen geöffnet hat und warum diese „Willkommenskultur“ einsetzte, die es weder für die eigenen Landsleute 1945 gab, die vom Osten nach Westen flohen noch für die Gastarbeiter, die vor einem halben Jahrhundert aus Anatolien hierher kamen. Was ist mit den Deutschen passiert, warum ticken Angela Merkel und viele ehrenamtliche Helfer so? Warum glauben sie die Welt retten zu können, obwohl auch die Möglichkeiten der mächtigen Wirtschaftsnation Bundesrepublik begrenzt sind?
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Es ist schon bemerkenswert, wie man den Ausgang von drei Landtagswahlen interpretieren kann, bei denen es um ein einziges Thema ging, das Deutschland seit dem letzten Sommer umtreibt. Der Befund ist daher klar: Es war eine krachende Niederlage für die Große Koalition in Berlin, denn knapp zwanzig Prozent von rund 64 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland konnten am Sonntag ihre Stimme abgeben. Ein Votum für die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin war es gewiss nicht. Viele haben einer Partei, die es erst seit kurzem gibt, über die wenig bekannt ist, einen Blankoscheck ausgestellt, und die anderen haben charismatische Führungspersönlichkeiten gewählt, in der Hoffnung, dass sie „es richten werden“, wie man in Baden-Württemberg so schön sagt.
Für alle, die sich Sorgen über den Kurs des Landes machen, lautet die beruhigende Nachricht, dass die Bundesrepublik eine stabile Demokratie ist und bleibt. Die Parteien haben es weiterhin in der Hand, mit einer vernünftigen Politik die Wähler für sich zu gewinnen und auch jene zurückzugewinnen, die jetzt in eine Protesthaltung übergewechselt sind und die AfD gewählt haben. Aber es kann nur davor gewarnt werden, die AfD als eine rechtsradikale Partei anzusehen, die – wie Außenminister Steinmeier gerade sagte – dem Ansehen der Bundesrepublik in der Welt schade. Solange die aktuelle Flüchtlingsproblematik anhält und die Regierung Merkel in ihr hilflos wirkt, wird sich am Zulauf zur AfD nichts ändern. Im Gegenteil, mit ihrem allgemeinen Palaver nach den Wahlen befinden sich CDU und SPD auf dem besten Weg, die AfD bei den kommenden Wahlen in diesem Jahr noch größer zu machen.
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Zumindest drei Bedingungen, die zum Gelingen erforderlich wären, werden nach dem Stand der Dinge nicht eintreten. Die Türkei, in der die Bundeskanzlerin ein Schlüsselland für die Bewältigung und Eindämmung der Flüchtlingsströme sieht, ist in ihrer momentanen Verfassung kein verlässlicher Partner. In Wahrheit herrscht in Teilen des Landes an der Schnittstelle von Europa zur muslimischen Welt Bürgerkrieg, droht der freien Presse in diesen Wochen und Monaten die Strangulation. Zweitens sieht es nicht danach aus, als wenn die Europäische Union es schaffen könnte, die Außengrenzen der Gemeinschaft abzusichern. Was Merkel als Unmöglichkeit für Deutschland bezeichnet hat, kann entlang der langen Mittelmeerküsten der EU erst recht nicht funktionieren. Griechenland und andere EU-Staaten werden einem tiefgehenden Eingriff in ihre Souveränitätsrechte nicht zustimmen, und wahrscheinlich sind die geplanten ‚hotspots‘ eine organisatorische Unmöglichkeit. Und drittens gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass es zu einer Aufteilung der Flüchtlinge auf die Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft kommen wird. Was die EU in dieser Hinsicht in letzter Zeit verabredete, ist das Papier nicht wert, auf dem es steht. Wenn dieser Befund zutrifft, wird 2016 zum Entscheidungsjahr für Europa.
Noch immer haben es die Menschen, die sich der Gülen-Bewegung (auch Hizmet) verbunden fühlen, in Deutschland nicht leicht. Aber wenn die 2. Jahrestagung der Stiftung Dialog und Bildung, die am Wochenende in einem Hotel an der Frankfurter Peripherie stattfand, ein Gradmesser war, dann sind die ermutigenden Zeichen und Fortschritte unübersehbar. Das liegt zum einen daran, dass sich die Bewegung als eine lernende ansieht, zum anderen daran, dass das Interesse der Wissenschaft und der Qualitätsmedien an Hizmet wächst.
Das gut besuchte zweitätige Treffen, an dem etwa 100 aus dem gesamten Bundesgebiet, aus Österreich und der Schweiz angereiste Personen teilnahmen, verzeichnete eine ganze Reihe von Höhepunkten. Die vielleicht bewegendsten Minuten gab es bei der Verleihung des Dialog-Preises an den aus Äthiopien stammenden Prinzen Asfa-Wossen Asferate, der seit 30 Jahren in der Bundesrepublik lebt und einem größeren Publikum durch sein hinreißendes Buch „Manieren“ bekannt ist – wenn man so will, eine Kulturgeschichte Deutschlands. Man konnte eine Stecknadel fallen hören, als er von seinem uralten, aus dem Hause David stammenden Geschlecht erzählte, von der Rolle Äthiopiens als erstem Zufluchtsort für in Bedrängnis geratene Muslime im 7. Jahrhundert! Der so Geehrte nutzte die Preisverleihung, einen Friedensappell an die europäische Gesellschaft, ja an die Weltgesellschaft zu richten. Denn unausgesprochen überschatteten die jüngsten Ereignisse von Paris den Gedankenaustausch, der angesichts der globalen Herausforderungen im Zeichen des Engagements von Hizmet für universelle Werte stand.
Vor einigen Tagen saß ich in München in einem Café, neben mir ein jüngerer, italienisch aussehender Mann mit seinem Sohn. Unsere Blicke kreuzten sich, ich spürte ein Interesse, zu akzeptierende Neugier, irgendwann kamen wir miteinander in ein sehr nettes, lebhaftes Gespräch. Der Mann stellte sich als ein Deutscher türkischer Abstammung heraus. Er war Unternehmer. Sehr schnell landeten wir bei unseren Familiengeschichten. Ich fragte ihn nach der türkischen Region, aus der seine Eltern einst nach Westen aufgebrochen waren und mein Tischnachbar erzählte mir, dass die Familie eigentlich aus Bagdad komme. Und ein wenig stolz fügte er hinzu, dass sie vom Kalifen Ali, einem Cousin des Propheten, direkt abstamme.
Wenn man durch die Straßen von New York läuft, fallen einem sogleich die Feuertreppen auf, die an den Flanken der Häuser angebracht sind, sich mitunter aber auch an jener Hauswand…
Deutsche und Deutschtürken sind sich in der letzten Woche auf Augenhöhe begegnet, eine wichtige Feststellung in unruhigen Tagen, in denen die Schreckensmeldungen aus Paris und aus dem belgischen Verviers zu uns herüberschwappten. Weniger sind damit die sichtlich bemühten Ausführungen des türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu bei seinem Berlin-Besuch und einem Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen gemeint, in dem es auch um die Pressefreiheit in der Türkei und um die Gülen-Bewegung ging. Sie können aufgrund der Vergleiche nur ungläubiges Kopfschütteln hervorrufen, vor allem bei den journalistischen Berufskollegen, die wegen ihres Mutes zur Wahrheit im Gefängnis sitzen. Aber auf der anderen Seite haben wir in diesen Tagen auch gesehen, was Zivilcourage und untergehaktes Demonstrieren in der Öffentlichkeit bewirken können. „Entscheidend ist, dass wir miteinander reden“, sagte mir eine junge Deutsche mit türkischen Wurzeln, die sich seit Jahren um den Dialog der Kulturen im Großraum Mannheim bemüht.
Ohne die fortdauernden Risiken kleinreden zu wollen, lässt sich feststellen, dass in Deutschland ein anderes öffentliches Meinungsklima als in Frankreich herrscht. Dort kommt Vieles zusammen: das nicht bewältigte koloniale Kapitel der Franzosen in Nordafrika, die Probleme der Eingliederung der „weißen“ Algerien-Rückkehrer seit den 1960er Jahren, die nachfolgende massenhafte Zuwanderung von Muslimen und ihre unzureichende Unterbringung in den Wohnmaschinen der französischen Vorstädte, enorme Jugendarbeitslosigkeit und das Aufeinandertreffen auf die größte jüdische Minderheit Europas, bei dem von der einen Seite die Parolen und Kampfbegriffe des Nahen Ostens, verbunden mit wachsender, unakzeptabler Gewalt eingesetzt werden.
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Weihnachten, normalerweise das große, besinnliche Familienfest, wird für viele Menschen in diesem Jahr einen anderen Verlauf nehmen. Sie müssen sich Sorgen machen. Denn zu den Ländern, aus denen beunruhigende Nachrichten kommen, zählt seit Neuestem auch die Türkei. Die Zukunft unabhängiger Medien steht dort auf dem Spiel, die Jobs der Kollegen sind in Gefahr, eine nicht unbeträchtliche Zahl von türkischen Journalisten wird sich über Weihnachten im Gefängnis befinden, unter ihnen Menschen, denen ich in den letzten Jahren begegnet bin. Ich teile mit ihnen das Verständnis von unserem Beruf, ich sehe die Welt wie sie. Und ich weiß aus der deutschen Erfahrung, dass der Verlust der Pressefreiheit in der Regel schwerwiegende Konsequenzen hat.
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