Die Globalisierung schreitet voran und erfasst immer weitere Bereiche. Längst ist die Politik davon betroffen, das handelnde Personal muss fast in Echtzeit auf neu hinzutretende Ereignisse reagieren, die sozialen Medien sorgen auf ihre Weise für zusätzlichen Druck. Kaum ein prominenter Politiker kommt ohne Twittern aus. Bildlich gesprochen, befinden wir uns in Prozessen, in mächtigen Strömen wieder, die uns mitreissen, gegen die sich auch die Politik nicht stemmen kann, weil sie kaum noch Zeit hat, Positionsbestimmungen vorzunehmen. Sie reagiert, das Tempo der Weltgeschichte ist – zumindest momentan – zu hoch.
Dies ist ein schwarzer Tag für Europa. Das Mutterland der Demokratie hat sich entschieden, die Europäische Gemeinschaft zu verlassen. Es stürzt die EU damit in eine Krise, deren Ausgang völlig offen ist. Momentan spricht leider mehr dafür, dass dies der Beginn eines Erosionsprozesses sein wird und nicht die Stunde, in der sich der Rest der Gemeinschaft dazu aufrafft, die Krise als Chance zu nutzen.
Großbritannien hat damit seine historisch bedingte Sonderolle als Inselreich in Sichtweite von Europa bestätigt. Es hat Nein zu Europa gesagt, obwohl es mittlerweile durch den Tunnel unter dem Ärmelkanal mit dem Festland verbunden ist und wirtschaftlich von der EU-Mitgliedschaft enorm profitiert hat. Aber wie das Ergebnis zeigt, sind die Briten nicht nur die vielkritisierte Nation von Kaufleuten, Händlern und Bankern, sondern auch Menschen mit Emotionen, deren Traum das Leben auf dem Lande ist. Und genau dieser ländliche Raum war zusammen mit den Universitätsstädten wahlentscheidend. Großbritannien hat ein Bekenntnis zum Nationalstaat abgeliefert, es glaubt an ihn, es lehnt die Bevormundung durch Brüssel ab, und es nimmt Wohlstandsverluste in Kauf. Die Londoner City, der große Arbeitgeber der Hauptstadt und des wohlhabenden Südenglands ist seit Freitagmorgen nicht mehr der Ort, der er bis zum Vorabend war.
Weiterlesen Nein zur Bevormundung durch Brüssel: War’s das für die EU?
Bis zum letzten Sommer war die Welt in Ordnung. Viele Neubürger, die in den letzten 50 Jahren nach Deutschland kamen, glaubten dieses Land zu kennen – mich eingeschlossen. Ich kam als Kind von Flüchtlingen über Dänemark nach Deutschland. Meine Familie hatte wegen Hitlers Krieg ihre ostpreußische Heimat verloren, mein Geburtsort liegt im heutigen Russland. Dann kam die Öffnung der Grenzen, hunderttausende von Menschen strömten in dieses Land, weil Bundeskanzlerin Angela Merkel es so wollte.
Vieles wird sich dadurch in Deutschland verändern, und wenn mein Eindruck nicht täuscht, fragen sich vor allem diejenigen, die sich in den letzten 20 Jahren für Deutschland entschieden haben, was aus dem Land werden wird. Und sie fragen auch – wie nahezu alle – warum Merkel die Grenzen geöffnet hat und warum diese „Willkommenskultur“ einsetzte, die es weder für die eigenen Landsleute 1945 gab, die vom Osten nach Westen flohen noch für die Gastarbeiter, die vor einem halben Jahrhundert aus Anatolien hierher kamen. Was ist mit den Deutschen passiert, warum ticken Angela Merkel und viele ehrenamtliche Helfer so? Warum glauben sie die Welt retten zu können, obwohl auch die Möglichkeiten der mächtigen Wirtschaftsnation Bundesrepublik begrenzt sind?
Weiterlesen Wer hat die Deutschen zu Lehrmeistern Europas gemacht?
Die Deutschen haben viele Stärken, besonderer Humor oder das Talent zum Komiker gehören nicht dazu. Umso erstaunlicher ist der Zuwachs an Satiresendungen im deutschen Fernsehen während der letzten Jahre. Aber Masse hat nicht unbedingt Klasse zur Folge. Da kann man noch immer sehr viel von England oder den USA lernen. Die für meine Begriffe talentierteste deutsche Komikerin, Anke Engelke, hat bezeichnenderweise ihre Jugend in Nordamerika verbracht. Das, was sie dort erlebte und aufsog, hat sie auf eine intelligente Weise nach Deutschland befördert. Aber eine Helene Fischer wird sie, was ihre Popularität angeht, deswegen noch lange nicht.
Weiterlesen Satire in Deutschland: Humor gehört nicht zu den Stärken der Deutschen
Es ist schon bemerkenswert, wie man den Ausgang von drei Landtagswahlen interpretieren kann, bei denen es um ein einziges Thema ging, das Deutschland seit dem letzten Sommer umtreibt. Der Befund ist daher klar: Es war eine krachende Niederlage für die Große Koalition in Berlin, denn knapp zwanzig Prozent von rund 64 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland konnten am Sonntag ihre Stimme abgeben. Ein Votum für die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin war es gewiss nicht. Viele haben einer Partei, die es erst seit kurzem gibt, über die wenig bekannt ist, einen Blankoscheck ausgestellt, und die anderen haben charismatische Führungspersönlichkeiten gewählt, in der Hoffnung, dass sie „es richten werden“, wie man in Baden-Württemberg so schön sagt.
Für alle, die sich Sorgen über den Kurs des Landes machen, lautet die beruhigende Nachricht, dass die Bundesrepublik eine stabile Demokratie ist und bleibt. Die Parteien haben es weiterhin in der Hand, mit einer vernünftigen Politik die Wähler für sich zu gewinnen und auch jene zurückzugewinnen, die jetzt in eine Protesthaltung übergewechselt sind und die AfD gewählt haben. Aber es kann nur davor gewarnt werden, die AfD als eine rechtsradikale Partei anzusehen, die – wie Außenminister Steinmeier gerade sagte – dem Ansehen der Bundesrepublik in der Welt schade. Solange die aktuelle Flüchtlingsproblematik anhält und die Regierung Merkel in ihr hilflos wirkt, wird sich am Zulauf zur AfD nichts ändern. Im Gegenteil, mit ihrem allgemeinen Palaver nach den Wahlen befinden sich CDU und SPD auf dem besten Weg, die AfD bei den kommenden Wahlen in diesem Jahr noch größer zu machen.
Weiterlesen Nicht die AfD, sondern die Türkei und Syrien bestimmen das Schicksal der Kanzlerin
In den Jahren, als es den Zeitungen noch gut ging, hatte ich das Glück, an einer Reihe von Plätzen auf der Welt große Zeitungshäuser und Redaktionen zu besuchen. Zwei davon sind mir in besonderer Erinnerung geblieben, ein Tag bei der New York Times in Manhattan, in dem gigantischen Newsroom und zwei Besuche bei der Tageszeitung Zaman in Istanbul. Ein vergleichbares Verlagszentrum, das eine derartige Klasse und Modernität ausstrahlt – man muss heute wohl sagen: ausstrahlte – gibt es in Deutschland nicht. Wenn man durch die Flure des Hauses ging, in denen täglich eine Zeitung mit einer verkauften Auflage von über 1 Millionen Exemplar entstand, gewann man rasch den Eindruck von einer Avantgardeveranstaltung der Türkei. An keinem anderen Ort in Istanbul war man sich so sicher, dass sich das Land auf dem Weg in eine Moderne befand, in der die großen Zukunftsaufgaben der im Aufbruch befindlichen Türkei gelöst würden. Zaman stand für die türkische Zivilgesellschaft, für eine neue Generation mit hervorragender Ausbildung, Westorientierung, mit Internationalität, die die leitenden Redakteure des Hauses perfekt verkörperten. Aber nicht nur das, bei Zaman wurde an etwas geglaubt, der Gebäudekomplex verströmte Kraft, Dynamik.
Weiterlesen Mein letzter Besuch in der Zaman-Redaktion in Istanbul
An einer der schönsten Stellen des Bosporus, im Istanbuler Vorort Tarabya, liegt ein deutscher Soldatenfriedhof. Es ist der einzige deutsche Soldatenfriedhof in der Türkei, die Gefallenen der beiden Weltkriege liegen hier begraben. Im Ersten Weltkrieg waren die Türkei und Deutschland Verbündete, 1917 war Kaiser Wilhelm II. an diesem Ort. Bei sintflutartigem Regen bin ich von der Sommerresidenz der deutschen Botschaft, für die ein türkischer Sultan einst ein Grundstück bereitstellte, zum Erinnerungsort hinaufgestiegen, der sich auf mehreren Terrassen befindet. Am Eingang zur Sommerresidenz hatte ich zufällig einen Herrn aus Berlin getroffen, der das Grab seines Vorfahren aufsuchen wollte. Er hieß Colmar von der Goltz, war Oberbefehlshaber einer türkischen Armee und starb in seinem Hauptquartier in Bagdad an den Folgen einer Typhuserkrankung. Seine sterblichen Überreste befinden sich heute auf dem Friedhof in Istanbul, auf dem auch ein deutscher Botschafter seine letzte Ruhe fand. Er war 1915, ein Jahr vor von der Goltz, verstorben. Die Wangenheimstraße in Berlin trägt seinen Namen. Auf der Suche nach dem Erinnerungsort, dem mein Interesse galt, musste ich bis zum obersten Plateau des Friedhofes von Tarabya hinaufsteigen, im Regen fand ich den Obelisk, der an Helmuth von Moltke erinnert. Der spätere preusßische Generalfeldmarschall verbrachte fünf Jahre seines Lebens am Bosporus, die deutsche Gemeinde von Istanbul ließ die Gedenkstätte für ihn errichten.
Weiterlesen Frau Bundeskanzlerin, die Türkei ist nicht erst seit gestern ein Schlüsselland für uns
Deutschland hat sich in den letzten Tagen außenpolitisch mit einem Tempo bewegt, das gemessen an dem, was während der letzten Jahre passierte oder besser: nicht passierte, als atemberaubend zu bezeichnen ist. Die Gründe, die dafür offiziell genannt werden, überzeugen nicht. Vermutlich handelt es sich um den letzten Versuch Merkels, in der Flüchtlingskrise den Kopf über Wasser zu behalten. Der Ausgang ist offen.
Tatsache ist, dass die Bundesrepublik mit ihrer Entscheidung, sich am Syrien-Konflikt militärisch zu beteiligen, einen Sprung in die Weltpolitik gewagt hat. Mit dem Afghanistan-Einsatz ist der Entschluss, den das Parlament im Eilverfahren besiegelte, nicht zu vergleichen, auch nicht mit dem Einsatz deutscher Flugzeuge im Kosovo-Krieg. Denn nun ist Deutschland ein Akteur, der ein überragendes Interesse daran haben muss, dass nicht nur der IS geschlagen wird, sondern dass in der Region Verhältnisse einkehren, die sehr bald dazu führen, dass die Menschen bleiben können, dass sie aus den Flüchtlingslagern in der Türkei, in Jordanien und im Libanon nach Hause zurückkehren.
Weiterlesen Deutschlands Sprung in die Weltpolitik im Schatten der USA
Die Geschichte der deutsch-türkischen Beziehungen legt es nahe, auch das aktuelle Verhältnis unter langfristigen Gesichtspunkten zu sehen. Denn beide Staaten unterhalten seit über 200 Jahren diplomatische Beziehungen, die Eliten kannten sich, während des Ersten Weltkrieges gab es sogar eine Waffenbrüderschaft, die in Deutschland vergessen ist, in der Türkei nicht. Als zu Beginn des Dritten Reiches Menschen in Gefahr gerieten, Wissenschaftler, Oppositionelle, deutsche jüdische Staatsbürger, nahm die Türkei die Bedrängten auf. Bis zum heutigen Tag fußen die Kontakte im Wissenschaftsbetrieb beider Länder auf dieser erzwungenen Begegnung.
Zu dem freundschaftlichen Verhältnis der Türkei zum lange Zeit fernen Partner – für Deutschland keine Selbstverständlichkeit angesichts der Verbrechen des Dritten Reiches und der Erfahrungen vieler europäischer Länder unter deutscher Besatzung im Zweiten Weltkrieg – ist die Beziehung der ganz besonderen Art, wie ich sie nennen möchte, durch die Gastarbeiter hinzugekommen. Viele gingen zurück, viele blieben. Von der zweiten Generation an hat eine Annäherung an das Gastland stattgefunden, die mittlerweile dazu geführt hat, dass sich Millionen von Menschen in der Bundesrepublik als bewusste Deutsche mit türkischen Wurzeln sehen. Wenn man so will, ist ein Dreiecksverhältnis zwischen Deutschland und der Türkei entstanden, hier die Bundesrepublik, dort die Türkei und als verbindendes Element unzählige Menschen mit mehrfacher Identität. Diese Tatsache muss die Politik in Rechnung stellen, oder anders formuliert: der Draht zwischen Berlin und Ankara darf nie abreißen. Er muss selbst in politisch schwierigen Zeiten genauso existieren wie es ihn einmal zwischen der Bundesrepublik und der DDR gab.
Natürlich ist es wichtig und lohnenswert, sich von Zeit zu Zeit Gedanken über das eigene Land zu machen. Aber es ist schon ungewöhnlich, dass man seit 10 Jahren von einer Bundeskanzlerin regiert wird und sich plötzlich fragt, wer sie ist und vor allem, was sie in der Flüchtlingsfrage vor hat. Wie nicht anders zu erwarten, sind die Tage einer gewissen Euphorie vorbei, der Winter naht, und der Zustrom der Flüchtlinge ist ungebrochen. Bundeskanzlerin Angela Merkel weigert sich, Obergrenzen zu nennen, ja überhaupt mit Zahlen zu arbeiten. Aber Zahlen sind die Grundlage des Regierungsgeschäfts, ohne Zahlen ist rationales politisches Handeln nicht möglich.
Dennoch ist verständlich, dass sich viele Menschen für die deutsche Willkommenskultur, für das Vorbild, das die Kanzlerin abgibt, begeistern, eine große Zahl von ehrenamtlichen Helfern, von Menschen, die etwas spenden, die etwas für die Neuankömmlinge tun. Auch von den Deutschtürken, die sich an den schwierigen Beginn von Eltern und Großeltern in Deutschland erinnern, ist viel Positives über die Bundeskanzlerin zu hören. Aber es gibt auch besorgte Fragen nach der Zukunft, nach einer Verschärfung von Gesetzen, die, so wird befürchtet, Auswirkungen auf die Menschen haben könnten, die in letzter Zeit in die Bundesrepublik gekommen sind, die z.B. den deutschen Pass noch nicht haben, sich aber hier schon zu Hause fühlen.
Leave a Comment