Es ist gut, dass die Fußball-Europameisterschaft beginnt, gut für den in Depression befindlichen Gastgeber, gut für Deutschland und gut für die Türkei. Vieles läuft zur Zeit schief im Erdoğan-Land, aber auch Manches in der Bundesrepublik. Wie zu befürchten war, hat die Armenien-Resolution des Deutschen Bundestages die Debatten nicht beendet, sondern angefeuert. Nur der Fussball scheint zur Zeit in der Lage, für andere Themen zu sorgen. Denn im Grunde genommen kennt Deutschland seit September letzten Jahres nur zwei: die Flüchtlingsproblematik und die Beziehung zum „Schlüsselland“ Türkei, wie es die Kanzlerin formuliert hat. Nach dem Schlüssel wird vor allem in Berlin Tag für Tag gesucht. Allem Anschein nach ist er vor der kleinasiatischen Küste im Meer versunken, die Chancen, ihn zu finden, sind immer noch da, aber sie sind gering. Nun muss alles dafür getan werden, dass Vernunft und Augenmaß in den Diskussionen herrscht oder wieder einzieht.
In Berlin gab es Ende der 1920er Jahre eine Gesangsgruppe mit dem Namen „Comedian Harmonists“. Sie bestand aus vorzüglichen Stimmen, aber das Geheimnis ihres Erfolges bestand unter anderem darin, dass niemand so laut sang, wie er es eigentlich vermochte. Dadurch entstand ein besonders eingänglicher Sound, der bis zum heutigen Tag den Hörer begeistert. Alt und Jung liebt diese Musik. Die Nationalsozialisten beendeten übrigens den Welterfolg des Ensembles. Es fiel auseinander, weil es mehrere jüdische Mitglieder hatte, denen ein Berufs- und Auftrittsverbot erteilt wurde.
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Es ist schon bemerkenswert, wie man den Ausgang von drei Landtagswahlen interpretieren kann, bei denen es um ein einziges Thema ging, das Deutschland seit dem letzten Sommer umtreibt. Der Befund ist daher klar: Es war eine krachende Niederlage für die Große Koalition in Berlin, denn knapp zwanzig Prozent von rund 64 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland konnten am Sonntag ihre Stimme abgeben. Ein Votum für die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin war es gewiss nicht. Viele haben einer Partei, die es erst seit kurzem gibt, über die wenig bekannt ist, einen Blankoscheck ausgestellt, und die anderen haben charismatische Führungspersönlichkeiten gewählt, in der Hoffnung, dass sie „es richten werden“, wie man in Baden-Württemberg so schön sagt.
Für alle, die sich Sorgen über den Kurs des Landes machen, lautet die beruhigende Nachricht, dass die Bundesrepublik eine stabile Demokratie ist und bleibt. Die Parteien haben es weiterhin in der Hand, mit einer vernünftigen Politik die Wähler für sich zu gewinnen und auch jene zurückzugewinnen, die jetzt in eine Protesthaltung übergewechselt sind und die AfD gewählt haben. Aber es kann nur davor gewarnt werden, die AfD als eine rechtsradikale Partei anzusehen, die – wie Außenminister Steinmeier gerade sagte – dem Ansehen der Bundesrepublik in der Welt schade. Solange die aktuelle Flüchtlingsproblematik anhält und die Regierung Merkel in ihr hilflos wirkt, wird sich am Zulauf zur AfD nichts ändern. Im Gegenteil, mit ihrem allgemeinen Palaver nach den Wahlen befinden sich CDU und SPD auf dem besten Weg, die AfD bei den kommenden Wahlen in diesem Jahr noch größer zu machen.
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In den Jahren, als es den Zeitungen noch gut ging, hatte ich das Glück, an einer Reihe von Plätzen auf der Welt große Zeitungshäuser und Redaktionen zu besuchen. Zwei davon sind mir in besonderer Erinnerung geblieben, ein Tag bei der New York Times in Manhattan, in dem gigantischen Newsroom und zwei Besuche bei der Tageszeitung Zaman in Istanbul. Ein vergleichbares Verlagszentrum, das eine derartige Klasse und Modernität ausstrahlt – man muss heute wohl sagen: ausstrahlte – gibt es in Deutschland nicht. Wenn man durch die Flure des Hauses ging, in denen täglich eine Zeitung mit einer verkauften Auflage von über 1 Millionen Exemplar entstand, gewann man rasch den Eindruck von einer Avantgardeveranstaltung der Türkei. An keinem anderen Ort in Istanbul war man sich so sicher, dass sich das Land auf dem Weg in eine Moderne befand, in der die großen Zukunftsaufgaben der im Aufbruch befindlichen Türkei gelöst würden. Zaman stand für die türkische Zivilgesellschaft, für eine neue Generation mit hervorragender Ausbildung, Westorientierung, mit Internationalität, die die leitenden Redakteure des Hauses perfekt verkörperten. Aber nicht nur das, bei Zaman wurde an etwas geglaubt, der Gebäudekomplex verströmte Kraft, Dynamik.
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Die Geschichte der deutsch-türkischen Beziehungen legt es nahe, auch das aktuelle Verhältnis unter langfristigen Gesichtspunkten zu sehen. Denn beide Staaten unterhalten seit über 200 Jahren diplomatische Beziehungen, die Eliten kannten sich, während des Ersten Weltkrieges gab es sogar eine Waffenbrüderschaft, die in Deutschland vergessen ist, in der Türkei nicht. Als zu Beginn des Dritten Reiches Menschen in Gefahr gerieten, Wissenschaftler, Oppositionelle, deutsche jüdische Staatsbürger, nahm die Türkei die Bedrängten auf. Bis zum heutigen Tag fußen die Kontakte im Wissenschaftsbetrieb beider Länder auf dieser erzwungenen Begegnung.
Zu dem freundschaftlichen Verhältnis der Türkei zum lange Zeit fernen Partner – für Deutschland keine Selbstverständlichkeit angesichts der Verbrechen des Dritten Reiches und der Erfahrungen vieler europäischer Länder unter deutscher Besatzung im Zweiten Weltkrieg – ist die Beziehung der ganz besonderen Art, wie ich sie nennen möchte, durch die Gastarbeiter hinzugekommen. Viele gingen zurück, viele blieben. Von der zweiten Generation an hat eine Annäherung an das Gastland stattgefunden, die mittlerweile dazu geführt hat, dass sich Millionen von Menschen in der Bundesrepublik als bewusste Deutsche mit türkischen Wurzeln sehen. Wenn man so will, ist ein Dreiecksverhältnis zwischen Deutschland und der Türkei entstanden, hier die Bundesrepublik, dort die Türkei und als verbindendes Element unzählige Menschen mit mehrfacher Identität. Diese Tatsache muss die Politik in Rechnung stellen, oder anders formuliert: der Draht zwischen Berlin und Ankara darf nie abreißen. Er muss selbst in politisch schwierigen Zeiten genauso existieren wie es ihn einmal zwischen der Bundesrepublik und der DDR gab.
Die Türkei ist in den letzten Tagen und Wochen wegen eines Themas international unter Beschuss geraten, dem sie sich stellen muss, früher oder später. Es geht um den Völkermord an den Armeniern vor 100 Jahren, eines der vielen fürchterlichen Kapitel des vergangenen Jahrhunderts, das mit Vertreibung und Mord in Europa und in den Kolonien der damaligen großen Mächte begann und bis 1945 anhielt. In den aufgeregten Diskussionen der letzten Tage ging ein wenig unter, dass der türkische Staatspräsident nach einer vorausgegangenen Erklärung des Ministerpräsidenten den Enkeln der 1915 von Massakern betroffenen Menschen sein Beileid ausgesprochen hat. Das war nicht unbedingt zu erwarten, normalerweise reagiert Erdoğan nicht auf Druck.
Auf einer meiner ersten USA-Reisen ging ich vor über 30 Jahren in Washington in ein Museum, von dem ich annahm, dass es u.a. die Geschichte der Indianer zeigen würde, ihren heroischen Kampf um ihre angestammten Territorien und ihr weitgehendes Verschwinden aus der amerikanischen Gesellschaft. Ich suchte vergeblich, es sollte noch einige Zeit dauern, bis die Nachfahren der Apachen, der Navajos und der Sioux in der großen grünen Achse von Washington zwischen Lincoln Memorial und Kapitol ihr Museum bekamen. Die Diskussion über ihre Vertreibung, das begangene Unrecht und die Art und Weise, wie man symbolische Widergutmachung betreiben kann, geht in den Vereinigten Staaten natürlich weiter. Aber solche Diskussionen, eine solche schmerzhafte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit erfordern Geduld und – Zeit.
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Die Debatten in Deutschland verlaufen aufgeregt. Eine Wohlstandsgesellschaft, die von keinen allzu großen Sorgen geplagt wird, neigt zu Übertreibungen, zu obsessiver Beschäftigung mit Themen, die kommen und gehen. Die Politik befindet sich in der Winterpause, umso mehr beherrschen sogenannte „Experten“ die öffentlichen Debatten. Zu dem einen großen Thema, das die Republik seit Wochen beschäftigt, Stichwort Pegida, ist beinahe alles gesagt worden, zu einem anderen erstaunlich wenig, nämlich wie es mit der Türkei weitergehen wird.
Ungläubig, wie im Falle von Putins Russland, verfolgen wir die Entwicklung, die das Land nimmt, dessen Megacity Istanbul – die größte Stadt des Kontinents – den Brückenschlag zwischen europäischer und nahöstlicher Welt versinnbildlicht. Die Silhouette der Stadt wird von Besuch zu Besuch westlicher, während die türkische Politik diesem Teil der Welt zunehmend den Rücken kehrt. Gewaltenteilung, demokratische Rechte, die Unabhängigkeit der Presse, haben in der Türkei in den letzten eineinhalb Jahren stark gelitten. Aber noch sind Einsicht, Umkehr möglich. Aber dringen entsprechende Signale an das Ohr des Mannes, der sich selbst in den Sattel gesetzt und mit einem geradezu märchenhaften Palastbau sich zu Lebezeiten ein Denkmal für die Ewigkeit geschaffen hat?
Für Europa, den Nahen Osten – die Türkei in der (goldenen) Mitte – haben sich im letzten halben Jahr – genauer gesagt seit den Olympischen Winterspielen in Sotschi – die Verhältnisse dramatisch verändert. Die Europäer verdrängen bislang die Konsequenzen, die Türkei unter dem soeben ins Amt eingeführten Staatspräsidenten Erdoğan auch, und im Nahen Osten bezahlen Millionen von Menschen das Versagen der Politik. Die Hälfte der syrischen Bevölkerung befindet sich auf der Flucht. Die Türkei liegt nebenan.
Als einzige nicht gerade zur Beruhigung beitragende Konstante stellt sich mittlerweile heraus, dass die Supermacht Amerika nicht länger bereit ist, Ordnungsmacht zu spielen. Die Grenzziehungen, die nach dem 1. Weltkrieg stattgefunden haben – in Osteuropa und im Nahen Osten – werden auf brutale Weise in Frage gestellt, eine Reihe von Staaten drohen zu scheitern oder befinden sich bereits in der Auflösung wie der Irak und Syrien. Wer das nicht sehen will oder verdrängen möchte, sei an dieser Stelle daran erinnert, dass Jugoslawien bereits vor 25 Jahren gescheitert ist. An seine Stelle sind acht Staaten getreten. Bundeskanzlerin Merkel versuchte kürzlich, bei einer Konferenz in Berlin die Nachfolgestaaten davon zu überzeugen, dass sie zur Zusammenarbeit verdammt sind. Aber die Gräuel und erlittenen Verletzungen der Bürgerkriege müssen in den Köpfen erst einmal überwunden werden. Brücken und Straßen lassen sich auf dem Balkan, aber nicht nur dort, leichter reparieren.
MEINUNG Die Gratulation zum Wahlerfolg an die Adresse des Siegers der türkischen Präsidentschaftswahlen erfolgte verhalten, zuerst die EU, danach, mit deutlichem zeitlichen Abstand, Berlin. Man kann auch sagen: wieder wurde eine Chance verpasst. Erdoğan fühlt sich seit längerer Zeit von den Deutschen schlecht behandelt. Da hätten die Kanzlerin und der Außenminister anders reagieren können, einen Augenblick lang das vergessen können, was sich an Sorge und Kritik an den aktuellen Zuständen in der Türkei aufgebaut hat. Denn in jedem Wahlausgang steckt die Chance wenn nicht eines Neuanfangs, so doch einer Besinnung, auf allen Seiten. Deutschland ist europäischer Bezugspartner Nr. 1 der Türkei, wie sich ja auch an der gerade bekannt gewordenen Abhöraffäre zeigt, vorausgesetzt es wird eine.
Angesichts der großen Krisen an Europas Peripherie zeigt sich, dass die Europäische Union nur im Falle einer weiteren Integration in der Lage bleiben wird, politisch Bedeutung zu entfalten. Kommuniziert wird das kaum.
Europa befindet sich in einer Entscheidungssituation, aber beim kontinentweiten Wahlkampf, der sich nun der Schlussphase nähert, merkt man nichts davon. Im Fernsehen bewerben sich zwei redegewandte Herren, der eine Deutscher, der andere Luxemburger, um den Job des Kommissionspräsidenten. Währenddessen fällt zwei Flugstunden entfernt ein großer Staat auseinander, von dem zumindest der westliche Teil Mitglied der Gemeinschaft werden möchte.
Jedes westeuropäische Land ist zur Zeit mit sich selbst beschäftigt, die Engländer werden demnächst darüber entscheiden, ob sie EU-Mitglied bleiben werden, die Schotten stimmen schon in diesem Jahr darüber ab, ob sie unabhängig werden wollen. Die Franzosen möchten ein Vorzeigeunternehmen nicht an einen US-Konkurrenten verkaufen. Und in Spanien verlieren Monat für Monat Tausende von Menschen ihr Haus und ihre Wohnung, weil sie arbeitslos sind und bei der Bank die Kreditraten nicht mehr begleichen können. In Italien leistet Berlusconi Pflichtstunden im Altersheim ab, und aus Griechenland kommt die wundersame Meldung, dass man beim Sanierungsprogramm „über den Berg sei.“
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