MEINUNG Die Gratulation zum Wahlerfolg an die Adresse des Siegers der türkischen Präsidentschaftswahlen erfolgte verhalten, zuerst die EU, danach, mit deutlichem zeitlichen Abstand, Berlin. Man kann auch sagen: wieder wurde eine Chance verpasst. Erdoğan fühlt sich seit längerer Zeit von den Deutschen schlecht behandelt. Da hätten die Kanzlerin und der Außenminister anders reagieren können, einen Augenblick lang das vergessen können, was sich an Sorge und Kritik an den aktuellen Zuständen in der Türkei aufgebaut hat. Denn in jedem Wahlausgang steckt die Chance wenn nicht eines Neuanfangs, so doch einer Besinnung, auf allen Seiten. Deutschland ist europäischer Bezugspartner Nr. 1 der Türkei, wie sich ja auch an der gerade bekannt gewordenen Abhöraffäre zeigt, vorausgesetzt es wird eine.
Tatsächlich konnte der Wahlerfolg Erdoğans die EU und Berlin nicht wirklich überraschen. Er war vorauszusehen, weil es keine wirkliche politische Alternative zum Wahlsieger gab, weil in der Türkei der enorme wirtschaftliche Aufschwung des letzten Jahrzehnts untrennbar mit dem Namen von Recep Tayyip Erdoğan verbunden ist, und weil man sich in außenpolitisch turbulenten Zeiten an vertraute Gesichter hält. Und turbulent geht es rund um das Land in der Tat zu: russische Soldaten auf der Krim, an den Rändern des Machtvakuums in der Ukraine und vor allem nach Süden eine einzige Erdbebenzone mit millionenfachen Flüchtlingsbewegungen, die nun bis an die Grenzen der Türkei spülen, das Land überfordern.
Europa und die Türkei dringend aufeinander angewiesen
Die richtige Schlussfolgerung aus den dramatischen weltpolitischen Ereignissen der letzten Monate wäre daher die Erkenntnis, dass Europa und die Türkei dringend aufeinander angewiesen sind. Denn die optimistischen Annahmen Ankaras, auch ohne die EU eine eigenständige Rolle im Nahen- und Mittleren Osten spielen zu können, sind zerstoben. Europa wiederum muss alles daran setzen, dass die Türkei ein relativer Stabilitätsanker in der Region bleibt, dass es der ungeliebten Führung des Landes gelingt, die radikalen Bewegungen und Strömungen in unmittelbarer Nachbarschaft auf Abstand zu halten. Putins Russland ist in diesem Zusammenhang ein abschreckendes Beispiel, zugleich ein Hebel für Erdoğan, den er in gegensätzliche Richtungen bewegen kann.
Viele befürchten, dass sich Erdoğan nach seinem Wahlerfolg nicht mäßigen, sondern nun erst recht daran gehen wird, die Ethnien, Religionsgemeinschaften und diversen politischen Lager der Türkei gegeneinander auszuspielen. Das kann so kommen, aber es muss nicht sein. Denn zu den Erkenntnissen des Wahlausgangs gehört auch, dass sich die Türken der zweiten und dritten Generation in ihren neuen Heimatländern immer weniger für die Vorgänge in der Türkei mobilisieren lassen, dass sich aber der liberale Geist des Gezi-Parks endgültig in den Köpfen vieler Menschen festgesetzt hat. Darauf muss Präsident Erdoğan rechtstaatliche Antworten finden.
Die Türkei ist momentan ein fragiles Gebilde: trotz einer 90-jährigen Modernisierungsphase ähnelt sie den europäischen Personenverbandsstaaten des europäischen Mittelalters. Alles schaut auf einen einzelnen starken Mann. Es braucht eben seine Zeit, bis Institutionen so stark werden, dass sie die Decken eines Gebäudes tragen. Vorübergehend sah es so aus, als wenn die Türkei auf diesem Weg weit vorangekommen sei, aber wenige Monate haben gezeigt, dass dieser Schein, dieser Optimismus irregeführt haben.
Gemeinsam Wege aus der Krise finden
Dennoch sind Europa und die Türkei dazu verpflichtet, geradezu verdammt, Wege aus der Krise, aus den Gefahren zu finden, die uns alle bedrohen. Wie im Falle Russlands gehört dazu das intensive Gespräch, das Ringen um die Köpfe, die Bereitschaft, sich für einen Augenblick in die Schuhe des anderen zu stellen. Leider muss man sagen, dass es im europäisch/deutsch-türkischen Verhältnis an dieser Intensität mangelt. Es ist kein politischer Wille da, sich in kurzen Abständen zu sehen, Argumente auszutauschen. Erdoğans Wahlkampfauftritte in Deutschland waren Trotz-Reisen.
Länder neigen zu exzentrischem Verhalten, zu Überraschungen aller Art, wenn sie sich alleingelassen fühlen. Die Motive für Erdoğans Entwicklung der letzten zwei, drei Jahre mögen andere sein. Aber nichts sollte unterlassen werden, um das Land auf einem Kurs mit Blick nach Westen zu halten, auch wegen der Menschen mit türkischen Wurzeln, die hierzulande leben.
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