Die Globalisierung schreitet voran und erfasst immer weitere Bereiche. Längst ist die Politik davon betroffen, das handelnde Personal muss fast in Echtzeit auf neu hinzutretende Ereignisse reagieren, die sozialen Medien sorgen auf ihre Weise für zusätzlichen Druck. Kaum ein prominenter Politiker kommt ohne Twittern aus. Bildlich gesprochen, befinden wir uns in Prozessen, in mächtigen Strömen wieder, die uns mitreissen, gegen die sich auch die Politik nicht stemmen kann, weil sie kaum noch Zeit hat, Positionsbestimmungen vorzunehmen. Sie reagiert, das Tempo der Weltgeschichte ist – zumindest momentan – zu hoch.
Der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Thorsten Albig regiert eines der kleineren deutschen Bundesländer, genauer gesagt das nördlichste. Zum Dauerthema „Flüchtlinge“ hat er gerade gesagt: „Das eigentliche Problem wird nicht hier im Landtag, (gemeint ist der Kieler Landtag) wird auch nicht im Bundestag entschieden, sondern ist eine verrückt gewordene zusammenbrechende Welt“. Albigs Aussage ist nicht nur resignativ, sondern auch falsch. Seine Partner und Nachbarn in Dänemark, Norwegen und Schweden würden ihr ganz gewiss nicht zustimmen. Sie ist darüber hinaus hochproblematisch, weil jeder Politiker dazu verpflichtet ist, die Lage kühl zu analysieren und seinen Wählern nicht Angst zu machen.
Warum ist die Bemerkung aber sachlich falsch? Weil die Welt in Wahrheit viel komplizierter ist als es der schleswig-holsteinische SPD-Regierungschef suggeriert und weil in der Wahrnehmung der Betroffenen erhebliche Teile der Welt gute Zeiten erleben. Kanada und die USA, wo – zugegeben – gegenwärtig ein ziemlich verrückter Vorwahlkampf zu den bevorstehenden Präsidentenwahlen abläuft – sind weiterhin dynamische, optimistische Gesellschaften. In Ottawa regiert seit wenigen Wochen eine neue politische Generation um den jungenhaft wirkenden Regierungschef Trudeau, einen Sohn des bekannten Politikers der 1970er Jahre. Als Einwanderungsland verhält sich Kanada vorbildlich, ist auf diesem Gebiet viel erfolgreicher als Europa.
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Deutschland hat sich in den letzten Tagen außenpolitisch mit einem Tempo bewegt, das gemessen an dem, was während der letzten Jahre passierte oder besser: nicht passierte, als atemberaubend zu bezeichnen ist. Die Gründe, die dafür offiziell genannt werden, überzeugen nicht. Vermutlich handelt es sich um den letzten Versuch Merkels, in der Flüchtlingskrise den Kopf über Wasser zu behalten. Der Ausgang ist offen.
Tatsache ist, dass die Bundesrepublik mit ihrer Entscheidung, sich am Syrien-Konflikt militärisch zu beteiligen, einen Sprung in die Weltpolitik gewagt hat. Mit dem Afghanistan-Einsatz ist der Entschluss, den das Parlament im Eilverfahren besiegelte, nicht zu vergleichen, auch nicht mit dem Einsatz deutscher Flugzeuge im Kosovo-Krieg. Denn nun ist Deutschland ein Akteur, der ein überragendes Interesse daran haben muss, dass nicht nur der IS geschlagen wird, sondern dass in der Region Verhältnisse einkehren, die sehr bald dazu führen, dass die Menschen bleiben können, dass sie aus den Flüchtlingslagern in der Türkei, in Jordanien und im Libanon nach Hause zurückkehren.
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Eine ganze Serie von Gedenktagen liegt hinter uns: der für Deutschland und für Europa so wichtige 8. Mai, die Kranzlegung der Kanzlerin in Moskau, das Ende der Kämpfe in Berlin. Das ist 70 Jahre her, aber damit war der Zweite Weltkrieg noch nicht zu Ende. Das Geschehen verlagerte sich von Europa nach Asien. Dort wurde bis zum August 1945 gekämpft, entsprechend anders ist die Erinnerungskultur in den USA, übrigens auch in der Türkei, die lange Zeit zu der Handvoll von neutralen Ländern gehörte, von Staaten, die sich am Krieg militärisch nicht beteiligten. Istanbul war dennoch im Zweiten Weltkrieg ein wichtiger Ort: hier beäugten sich die Gegner im Krieg, hier kam es zu Geheimtreffen zwischen den Amerikanern und der deutschen Opposition gegen Hitler. Und am Ende, im Februar 1945, musste der einstige Verbündete des deutschen Kaiserreiches auf amerikanischen Druck hin Berlin doch noch den Krieg erklären, ohne dass dies militärische Konsequenzen gehabt hätte.
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Die Kanzlerin in Moskau und Minsk, den französischen Präsidenten quasi im Schlepptau. Krisenkonferenzen, Telefonate, Medienrummel. Zufällig halte ich mich zu dieser Zeit in Russland auf, diesem riesigen Land, das eher einem Kontinent mit seinen 11 Zeitzonen ähnelt. Seit meinem letzten Besuch, der einige Jahre zurückliegt, hat sich Moskau rasant verändert. Die Halle des Flughafens Domodedowo sieht futuristischer aus, als das, was in Berlin vielleicht eines Tages fertig wird. Die 12 Millionen Einwohner zählende Stadt hat einen dritten Autobahnring erhalten, und dennoch herrscht meistens Stillstand auf den Straßen. Highways schlängeln sich aus den mit Hochhäusern bestückten Vorstädten in die Innenstadt, nur die Metro erinnert mit ihren kunstvoll geschmückten Bahnsteighallen tief im Innern der Erde an die Stalin-Zeit. Moskau ist eine amerikanische Stadt geworden.
Aber nur vordergründig. Begibt man sich für einige Minuten in den chaotischen Autoverkehr, merkt man rasch, dass hier das Faustrecht herrscht, wie im 19. Jahrhundert im Wilden Westen. Wer einen SUV mit getönten Scheiben fährt, hat immer Vorfahrt. „Das sind Tschetschenen oder Mafiosi“, sagen die Moskowiter. Diese Luxuskarossen parken auch in der Seitenstraße hinter dem Kaufhaus GUM, einem Konsumtempel wie man ihn in Berlin nicht findet. In den 1980er Jahren habe ich in dem damals heruntergekommenen Gebäudekomplex russische Frauen weinen sehen, die stundenlang für eine Kittelschürze oder ein einfaches Kleidungsstück angestanden hatten, um festzustellen, dass es gerade ausverkauft war. Jetzt trippeln hier die Schönen der Hauptstadt vorbei, und in den Schaufensterscheiben mit Designermode aus Rom und Paris sieht man keine Preisschilder.
Eine neue Mittelschicht ist entstanden
Wer glaubt, dass es nur eine Klasse der Oligarchen und Superreichen in Russland gebe, täuscht sich. Hier ist, nach den grauenhaften Jelzin-Jahren, als Löhne und Gehälter mitunter für ein Dreivierteljahr ausblieben, eine neue Mittelschicht entstanden, die nach Aussagen von Gesprächspartnern 10 Prozent der Moskauer Bevölkerung ausmacht, nicht viel, aber in absoluten Zahlen schon. Diese soziale Gruppe ist in den letzten Jahren weit herumgekommen, sie kann sich alles leisten. Bis gestern war der Rubel eine starke Währung, Russland als Reiseland teuer. Nun bekommt man für Dollars und Euros das Doppelte. Die Bevölkerung merkt, dass die Preise anziehen. Aber noch ist das Angebot in den Supermärkten geradezu verschwenderisch, der neben dem Hotel in St. Petersburg hat rund um die Uhr geöffnet.
MEINUNG Die Gratulation zum Wahlerfolg an die Adresse des Siegers der türkischen Präsidentschaftswahlen erfolgte verhalten, zuerst die EU, danach, mit deutlichem zeitlichen Abstand, Berlin. Man kann auch sagen: wieder wurde eine Chance verpasst. Erdoğan fühlt sich seit längerer Zeit von den Deutschen schlecht behandelt. Da hätten die Kanzlerin und der Außenminister anders reagieren können, einen Augenblick lang das vergessen können, was sich an Sorge und Kritik an den aktuellen Zuständen in der Türkei aufgebaut hat. Denn in jedem Wahlausgang steckt die Chance wenn nicht eines Neuanfangs, so doch einer Besinnung, auf allen Seiten. Deutschland ist europäischer Bezugspartner Nr. 1 der Türkei, wie sich ja auch an der gerade bekannt gewordenen Abhöraffäre zeigt, vorausgesetzt es wird eine.
Es gibt Tage und Stunden, da wäre ich lieber Franzose, Brite oder Amerikaner. Der Jahrestag der alliierten Landung in der Normandie ist so ein Datum. Aber erstaunlicherweise ist über die…
Jahrzehntelang blieb der alte Kontinent von Kriegen und Unruhen unberührt. Die Krise in der Ukraine zeigt, dass dies sich in Zukunft schnell ändern kann. Hinter dem Konstrukt Europa stehen Fragezeichen.…
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