Die Globalisierung schreitet voran und erfasst immer weitere Bereiche. Längst ist die Politik davon betroffen, das handelnde Personal muss fast in Echtzeit auf neu hinzutretende Ereignisse reagieren, die sozialen Medien sorgen auf ihre Weise für zusätzlichen Druck. Kaum ein prominenter Politiker kommt ohne Twittern aus. Bildlich gesprochen, befinden wir uns in Prozessen, in mächtigen Strömen wieder, die uns mitreissen, gegen die sich auch die Politik nicht stemmen kann, weil sie kaum noch Zeit hat, Positionsbestimmungen vorzunehmen. Sie reagiert, das Tempo der Weltgeschichte ist – zumindest momentan – zu hoch.
In Berlin gab es Ende der 1920er Jahre eine Gesangsgruppe mit dem Namen „Comedian Harmonists“. Sie bestand aus vorzüglichen Stimmen, aber das Geheimnis ihres Erfolges bestand unter anderem darin, dass niemand so laut sang, wie er es eigentlich vermochte. Dadurch entstand ein besonders eingänglicher Sound, der bis zum heutigen Tag den Hörer begeistert. Alt und Jung liebt diese Musik. Die Nationalsozialisten beendeten übrigens den Welterfolg des Ensembles. Es fiel auseinander, weil es mehrere jüdische Mitglieder hatte, denen ein Berufs- und Auftrittsverbot erteilt wurde.
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Bis zum letzten Sommer war die Welt in Ordnung. Viele Neubürger, die in den letzten 50 Jahren nach Deutschland kamen, glaubten dieses Land zu kennen – mich eingeschlossen. Ich kam als Kind von Flüchtlingen über Dänemark nach Deutschland. Meine Familie hatte wegen Hitlers Krieg ihre ostpreußische Heimat verloren, mein Geburtsort liegt im heutigen Russland. Dann kam die Öffnung der Grenzen, hunderttausende von Menschen strömten in dieses Land, weil Bundeskanzlerin Angela Merkel es so wollte.
Vieles wird sich dadurch in Deutschland verändern, und wenn mein Eindruck nicht täuscht, fragen sich vor allem diejenigen, die sich in den letzten 20 Jahren für Deutschland entschieden haben, was aus dem Land werden wird. Und sie fragen auch – wie nahezu alle – warum Merkel die Grenzen geöffnet hat und warum diese „Willkommenskultur“ einsetzte, die es weder für die eigenen Landsleute 1945 gab, die vom Osten nach Westen flohen noch für die Gastarbeiter, die vor einem halben Jahrhundert aus Anatolien hierher kamen. Was ist mit den Deutschen passiert, warum ticken Angela Merkel und viele ehrenamtliche Helfer so? Warum glauben sie die Welt retten zu können, obwohl auch die Möglichkeiten der mächtigen Wirtschaftsnation Bundesrepublik begrenzt sind?
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An einer der schönsten Stellen des Bosporus, im Istanbuler Vorort Tarabya, liegt ein deutscher Soldatenfriedhof. Es ist der einzige deutsche Soldatenfriedhof in der Türkei, die Gefallenen der beiden Weltkriege liegen hier begraben. Im Ersten Weltkrieg waren die Türkei und Deutschland Verbündete, 1917 war Kaiser Wilhelm II. an diesem Ort. Bei sintflutartigem Regen bin ich von der Sommerresidenz der deutschen Botschaft, für die ein türkischer Sultan einst ein Grundstück bereitstellte, zum Erinnerungsort hinaufgestiegen, der sich auf mehreren Terrassen befindet. Am Eingang zur Sommerresidenz hatte ich zufällig einen Herrn aus Berlin getroffen, der das Grab seines Vorfahren aufsuchen wollte. Er hieß Colmar von der Goltz, war Oberbefehlshaber einer türkischen Armee und starb in seinem Hauptquartier in Bagdad an den Folgen einer Typhuserkrankung. Seine sterblichen Überreste befinden sich heute auf dem Friedhof in Istanbul, auf dem auch ein deutscher Botschafter seine letzte Ruhe fand. Er war 1915, ein Jahr vor von der Goltz, verstorben. Die Wangenheimstraße in Berlin trägt seinen Namen. Auf der Suche nach dem Erinnerungsort, dem mein Interesse galt, musste ich bis zum obersten Plateau des Friedhofes von Tarabya hinaufsteigen, im Regen fand ich den Obelisk, der an Helmuth von Moltke erinnert. Der spätere preusßische Generalfeldmarschall verbrachte fünf Jahre seines Lebens am Bosporus, die deutsche Gemeinde von Istanbul ließ die Gedenkstätte für ihn errichten.
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Polen, in dem es vor wenigen Wochen einen Regierungswechsel gab, ist schwer unter Beschuss geraten. Die Europäische Union und vor allem Deutschland sehen die dortige Demokratie in Gefahr und wollen das östliche Nachbarland der Bundesrepublik unter Kuratel stellen. Gewiss ist es bedenklich, die öffentlich-rechtlichen Sender der Staatsaufsicht zu überantworten und die Direktoren der TV-Anstalten fortan durch die Regierung ernennen zu lassen, aber wo ist da der große Unterschied zum Rest der EU, auch zu Deutschland? Natürlich macht man es hier anders, gibt es Gremien und Ausschüsse, sogar Stellenausschreibungen für Intendanten in Tageszeitungen, wie gerade für den RBB in Berlin geschehen, aber am Ende beraten die Parteien im Hinterstübchen, wer es wird, ob CDU oder SPD dran sind. Warum also die Aufregung?
Helmut Schmidt war kein einfacher Chef. Für ihn zu arbeiten war phasenweise nur deswegen ertragbar, weil jeder wusste, dass er von sich am meisten abverlangte. Am schlimmsten war es vor Regierungserklärungen. Der Kanzler ging erst dann ernsthaft an den Text, wenn der Anlass unmittelbar bevorstand, also gegen 22 Uhr, genau 11 Stunden vor Redebeginn. Man hatte schon den ganzen Tag gearbeitet, also 12-13 Bürostunden hinter sich. Ab 23.00 Uhr kamen die ersten, mit grüner Tinte redigierten Seiten vom Kanzler zurück, gegen 3.30 waren die Redenschreiber und die Sekretärinnen fertig, im wahrsten Sinne des Wortes. Aber dann konnte man noch nicht das Büro verlassen, es begann die Beschriftung und der Versand der Briefumschläge, die noch vor Redenbeginn einen ausgewählten Empfängerkreis von Regierung und Opposition zu erreichen hatten. Erst dann konnte ich nach Hause fahren, duschen, die Kleidung wechseln, kurz mit meiner Frau frühstücken, bevor es ins Bonner Bundeskanzleramt zurückging. Ein paar Dutzend Meter entfernt lag der Bundestag. Mit Redebeginn des Kanzlers gelangte ich durch eine Hintertür auf die letzte Reihe der Regierungsbank, wo nach kurzer Zeit die Texte der Parlamentsstenographen eintrafen. Ich hatte sie für den Kanzler vorzuredigieren. Gegen Mittag war ich fertig und wankte an meinen Schreibtisch zurück.
Die Geschichte der deutsch-türkischen Beziehungen legt es nahe, auch das aktuelle Verhältnis unter langfristigen Gesichtspunkten zu sehen. Denn beide Staaten unterhalten seit über 200 Jahren diplomatische Beziehungen, die Eliten kannten sich, während des Ersten Weltkrieges gab es sogar eine Waffenbrüderschaft, die in Deutschland vergessen ist, in der Türkei nicht. Als zu Beginn des Dritten Reiches Menschen in Gefahr gerieten, Wissenschaftler, Oppositionelle, deutsche jüdische Staatsbürger, nahm die Türkei die Bedrängten auf. Bis zum heutigen Tag fußen die Kontakte im Wissenschaftsbetrieb beider Länder auf dieser erzwungenen Begegnung.
Zu dem freundschaftlichen Verhältnis der Türkei zum lange Zeit fernen Partner – für Deutschland keine Selbstverständlichkeit angesichts der Verbrechen des Dritten Reiches und der Erfahrungen vieler europäischer Länder unter deutscher Besatzung im Zweiten Weltkrieg – ist die Beziehung der ganz besonderen Art, wie ich sie nennen möchte, durch die Gastarbeiter hinzugekommen. Viele gingen zurück, viele blieben. Von der zweiten Generation an hat eine Annäherung an das Gastland stattgefunden, die mittlerweile dazu geführt hat, dass sich Millionen von Menschen in der Bundesrepublik als bewusste Deutsche mit türkischen Wurzeln sehen. Wenn man so will, ist ein Dreiecksverhältnis zwischen Deutschland und der Türkei entstanden, hier die Bundesrepublik, dort die Türkei und als verbindendes Element unzählige Menschen mit mehrfacher Identität. Diese Tatsache muss die Politik in Rechnung stellen, oder anders formuliert: der Draht zwischen Berlin und Ankara darf nie abreißen. Er muss selbst in politisch schwierigen Zeiten genauso existieren wie es ihn einmal zwischen der Bundesrepublik und der DDR gab.
In der Straße, in der ich in den 1950er Jahren groß wurde, herrschte lange Zeit Stille, vorbeifahrende Autos hörte man schon von weitem. Dann gab es eines Tages einen Auflauf der Kinder, die einen stahlblauen VW-Käfer mit kleinem Rückfenster und Blinkleuchten, die aus dem Chassis herausklappten, umringten. Der Nachbar hatte das Fahrzeug erstanden, er war der erste Autobesitzer in unserem Straßenabschnitt. Und es gehörte zum samstäglichen Ritual, das Fahrzeug zu putzen und zu wienern. Auch dabei schauten wir zu. Einen VW, so träumten wir, wollten wir eines Tages auch besitzen.
Kurz vor der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, als Deutschland im Begriff stand, Großbritannien als führende Wirtschaftsnation zu überholen, kam der Begriff „Made in Germany“ auf. Die Engländer führten ihn ein, zur Abwehr vermeintlich billiger deutscher Importware. Die Ironie der Geschichte will es, dass heutzutage jeder Deutsche auf dieses ‚Made in Germany‘ stolz ist. Die ursprüngliche Bedeutung ging verloren. Dieses Gütesiegel ist vielleicht das geheime Markenzeichen der Nation.
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Deutschland, ich habe diese Auffassung schon wiederholt vertreten, hat viele Stärken, aber wie alle anderen Staaten auch, die eine oder andere Schwäche. Eine davon ist fehlendes Selbstbewusstsein, Schwanken zwischen Drohgebärde und Zurückweichen im Ernstfall. Wenn mich der Eindruck nicht täuscht, hat der türkische Präsident Recep Tayyib Erdoğan diese Spannweite an Verhaltensmöglichkeiten ziemlich genau erkannt.
Auf der Suche nach Gründen komme ich zu dem Schluss, dass sie tief in der deutschen Geschichte liegen. Jahrhundertelang bestand Deutschland aus einer nahezu unüberschaubaren Anzahl von Kleinstaaten, während das Osmanische Reich von Bosnien bis nach Ägypten reichte. Die deutsche Schwäche nutzten andere Mächte aus, das Land war oft genug Schauplatz von Kriegen, die die großen europäischen Mächte gegeneinander führten, am schlimmsten im Dreißgjährigen Krieg. Noch wichtiger ist in meinen Augen der Umstand, dass sich Deutschland von einer ganz kurzen Phase abgesehen am großen Wettlauf der Europäer um Kolonien nicht beteiligte. Nur im Zeitraum von 30 Jahren war das deutsche Kaiserreich zwischen 1884 und 1914 am Erwerb von Kolonien beteiligt. Die Spuren dieser Zeit lassen sich noch heute in Ost- und Westafrika besichtigen. Denn die Deutschen waren gründlich, sie bauten Rathäuser, Postämter und Eisenbahnen.
Eine ganze Serie von Gedenktagen liegt hinter uns: der für Deutschland und für Europa so wichtige 8. Mai, die Kranzlegung der Kanzlerin in Moskau, das Ende der Kämpfe in Berlin. Das ist 70 Jahre her, aber damit war der Zweite Weltkrieg noch nicht zu Ende. Das Geschehen verlagerte sich von Europa nach Asien. Dort wurde bis zum August 1945 gekämpft, entsprechend anders ist die Erinnerungskultur in den USA, übrigens auch in der Türkei, die lange Zeit zu der Handvoll von neutralen Ländern gehörte, von Staaten, die sich am Krieg militärisch nicht beteiligten. Istanbul war dennoch im Zweiten Weltkrieg ein wichtiger Ort: hier beäugten sich die Gegner im Krieg, hier kam es zu Geheimtreffen zwischen den Amerikanern und der deutschen Opposition gegen Hitler. Und am Ende, im Februar 1945, musste der einstige Verbündete des deutschen Kaiserreiches auf amerikanischen Druck hin Berlin doch noch den Krieg erklären, ohne dass dies militärische Konsequenzen gehabt hätte.
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