Helmut Schmidt war kein einfacher Chef. Für ihn zu arbeiten war phasenweise nur deswegen ertragbar, weil jeder wusste, dass er von sich am meisten abverlangte. Am schlimmsten war es vor Regierungserklärungen. Der Kanzler ging erst dann ernsthaft an den Text, wenn der Anlass unmittelbar bevorstand, also gegen 22 Uhr, genau 11 Stunden vor Redebeginn. Man hatte schon den ganzen Tag gearbeitet, also 12-13 Bürostunden hinter sich. Ab 23.00 Uhr kamen die ersten, mit grüner Tinte redigierten Seiten vom Kanzler zurück, gegen 3.30 waren die Redenschreiber und die Sekretärinnen fertig, im wahrsten Sinne des Wortes. Aber dann konnte man noch nicht das Büro verlassen, es begann die Beschriftung und der Versand der Briefumschläge, die noch vor Redenbeginn einen ausgewählten Empfängerkreis von Regierung und Opposition zu erreichen hatten. Erst dann konnte ich nach Hause fahren, duschen, die Kleidung wechseln, kurz mit meiner Frau frühstücken, bevor es ins Bonner Bundeskanzleramt zurückging. Ein paar Dutzend Meter entfernt lag der Bundestag. Mit Redebeginn des Kanzlers gelangte ich durch eine Hintertür auf die letzte Reihe der Regierungsbank, wo nach kurzer Zeit die Texte der Parlamentsstenographen eintrafen. Ich hatte sie für den Kanzler vorzuredigieren. Gegen Mittag war ich fertig und wankte an meinen Schreibtisch zurück.
Veröffentlicht 14. November 2015 von jt-admin
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