Eine ganze Serie von Gedenktagen liegt hinter uns: der für Deutschland und für Europa so wichtige 8. Mai, die Kranzlegung der Kanzlerin in Moskau, das Ende der Kämpfe in Berlin. Das ist 70 Jahre her, aber damit war der Zweite Weltkrieg noch nicht zu Ende. Das Geschehen verlagerte sich von Europa nach Asien. Dort wurde bis zum August 1945 gekämpft, entsprechend anders ist die Erinnerungskultur in den USA, übrigens auch in der Türkei, die lange Zeit zu der Handvoll von neutralen Ländern gehörte, von Staaten, die sich am Krieg militärisch nicht beteiligten. Istanbul war dennoch im Zweiten Weltkrieg ein wichtiger Ort: hier beäugten sich die Gegner im Krieg, hier kam es zu Geheimtreffen zwischen den Amerikanern und der deutschen Opposition gegen Hitler. Und am Ende, im Februar 1945, musste der einstige Verbündete des deutschen Kaiserreiches auf amerikanischen Druck hin Berlin doch noch den Krieg erklären, ohne dass dies militärische Konsequenzen gehabt hätte.
70 Jahre nach dem 2. Weltkrieg: Der letzte Aufmarsch von Zeitzeugen
Diese Gedenktage treffen uns mit einer gewissen Wucht, weil sie mit dem letzten großen Aufmarsch der Zeitzeugen verbunden sind. Schon in 10 Jahren wird dies anders sein, entsprechend groß ist die Anteilnahme an den Erzählungen sehr alter Menschen, die mitunter erst jetzt angefangen haben zu reden. Sie füllen mit ihren Berichten viele Bücher und noch mehr Zeitungsseiten. Das trifft auch für Deutschland zu, den Auslöser des Zweiten Weltkriegs. In diesem Land ist lange geschwiegen worden, sowohl was die Täter angeht als auch die Opfer, vor allem die Frauen. Sie haben aus Scham ihren Kindern nicht erzählt, was ihnen zwischen dem Januar 1945 und dem Sommer desselben Jahres widerfahren ist, als die Rote Armee in Deutschland fürchterliche Rache für die Jahre 1941, 42 und 43 nahm, während der die Exzesse der deutschen Besatzungszeit in der Sowjetunion getobt hatten. Niemand blieb verschont.
Zu den großen Wundern seit 1989/90 gehört jedoch, dass die Russen den Deutschen vergeben haben. Das macht die Lage nicht einfacher, in diesen Tagen der 27 Millionen russischen Toten zu gedenken und gleichzeitig Abstand von der russischen politischen Führung zu halten, die ein neues, altes Kapitel der europäischen Geschichte wieder aufgeschlagen hat. Die Annektierung der Krim, zu der auch der Verlust der Freiheit der Krimtataren gehört, die bewusst herbeigeführte Destabilisierung der Ukraine, erwecken ungute Erinnerungen und Erfahrungen. Besonders lebhaft beschäftigen sie die Menschen in Polen und in den baltischen Staaten, denn dem deutschen Angriff auf Russland im Jahre 1941 ging der Untergang dieser Staaten voraus, hatte es doch ein zynisches Zusammenspiel der Diktatoren Hitler und Stalin zwischen dem Sommer 1939 und dem Juni 1941 gegeben.
Deutschland und Russland: Gedenken hat immer mit Politik zu tun
Anders als Deutschland hat Russland sein damaliges Verhalten nicht aufgeklärt, im Gegenteil, es gibt in letzter Zeit Versuche, die Geschichte dieser Jahre umzuschreiben und damit eine Brücke zur Gegenwart zu schlagen: das Verhalten Westeuropas in der Ukrainekrise vor dem Hintergrund des Großen Vaterländischen Krieges der Jahre 1941-1945 zu sehen und zu deuten. Es ist ein gefährliches Unterfangen, denn es läuft darauf hinaus, die Massen zu manipulieren, zu radikalisieren und den Graben zwischen den westlichen Demokratien und Russland zu vertiefen.
Spätestens hier wird deutlich, dass Gedenken immer auch mit Politik zu tun hat. Anstatt die Toten des Zweiten Weltkriegs gemeinsam zu ehren, hat sich die Welt aufs Neue gespalten – wie in Zeiten des Kalten Krieges. Es bleibt der deutschen Bundeskanzlerin vorbehalten, als Einzige den großen Spagat zwischen dem Westen und Russland zu unternehmen und im Gedenken an die Ereignisse vor 70 Jahren den Russen die Hand zu reichen. Die Berichterstattung über die Kämpfe im Osten der Ukraine ist unterdessen eingeschlafen. Aber sie gehen weiter, wie wir wissen und sie werden Folgen haben. Gedenkveranstaltungen sind auch Momente der Einkehr, der Stille. Hoffentlich nutzen die Hauptakteure den Augenblick und denken nach.
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