Bei nahezu allen Ereignissen, die sich in diesen Tagen im Nahen und Mittleren Osten sowie der neuen Erdbebenzone Ukraine abspielen, gilt Amerika als der Verantwortliche oder Schuldige für die Zuspitzung der Situation. Dies gilt ebenso für die dramatisch veränderte Lage im Irak. Aber eine derartige Argumentation greift viel zu kurz. Was die Deutschen und die Europäer verdrängen, ist, dass nahezu alle Grenzziehungen nach dem Ende des 1. Weltkrieges sich als nicht stabil erwiesen haben. Nach knapp 100 Jahren bäumt sich die Geschichte gegen papierne Lösungen auf. Oder anders formuliert: anstelle des Osmanischen Reiches und der österreichisch-ungarischen Donaumonarchie ist keine neue, dauerhafte Staatenwelt getreten. Auf dem Balkan hat sich die große Eruption vor 25 Jahren ereignet, als Jugoslawien in einer Reihe von Sezessionsbewegungen endete. Nun scheint dasselbe im Irak bevorzustehen.
Wer nach Fehlentwicklungen und verhängnisvollen Weichenstellungen sucht, wird auch nicht umhinkommen, zu konstatieren, dass der Sturz des Schah-Regimes im Iran und die Machtübernahme der Mullahs vor mehr als 30 Jahren einen erheblichen Anteil an der heutigen Situation in dem von Zerfall bedrohten Land und seinen Nachbarstaaten hat. Wenn man so will, ist damals der Großversuch gescheitert, im Raum zwischen Mittelmeer und Asien einen Staat mit einer funktionierenden Mittelschicht zu organisieren. Derartiges gibt es nur in Israel und mit Abstrichen – die man aufgrund der Ereignisse der letzten Monate vornehmen muss – in der Türkei.
Die Welt im Umbruch
Was bedeutet das für Europa, für Deutschland? Sehr viel Ungewissheit, jede Menge Herausforderungen. Noch kommt die Bundesrepublik nicht aus der Deckung. Sie hofft auf Wunder, auf Stürme im Mittelmeer, die Bootsflüchtlings aus Afrika aufhalten, auf ein Einlenken Putins, auf friedensbringende Gespräche zwischen Moskau und Kiew, auf ein koordiniertes Eingreifen der USA, des Iran und der Türkei in den irakischen Konflikt, wenn der Vormarsch der Isis-Fanatiker dies erforderlich machen sollte. Aber das wird kaum ausreichen. Die Zeichen stehen auf Sturm. Erstmals besteht die konkrete Sorge, dass die Konflikte des Nahen Ostens nach Europa überspringen, durch zurück kehrende fanatische Syrien- und Irakkämpfer. Der Anschlag in Brüssel war ein erstes Fanal.
Wie schon oft, glaubt sich die Bundesrepublik mit Hilfsmaßnahmen begnügen zu können. Sie nimmt mehr Flüchtlinge auf, z.B. aus Syrien. Aber derartige Programme stoßen an Grenzen. Weltweit sind nach neuesten UN-Schätzungen etwa 50 Millionen Menschen auf der Flucht. Die deutschen Bundesländer schieben sich schon jetzt bei der Aufnahme kleinerer Flüchtlingskontingente gegenseitig den Schwarzen Peter zu. Eine Armutszuwanderung, vor allem aus Rumänien, verschärft die Probleme. Aus Italien treffen nach kurzem Zwischenstopp in Rom Lampedusa-Flüchtlinge hierzulande ein. Und am Ende der Kette stehen verzweifelte Ämter, Sozialarbeiter und Lehrer, die nicht wissen, wie sie mit der neuen Lage fertig werden sollen.
Juncker ist der falsche Kandidat zur falschen Zeit
Nein, man kann die Dinge im Nahen und Osten nicht den Regionalmächten überlassen, nicht einem Amerika, das sich erkennbar aus diesem Teil der Welt zurückzieht, das schon sehr bald auf das Öl der Arabischen Halbinsel nicht mehr angewiesen sein wird. Alle Anzeichen sprechen für einen Epochenbruch, bei dem die Europäer gefordert sind. Europa wirkt in diesen Tagen jedoch nicht so, als sei es sich der neuen Lage bewusst. Es gibt keine Initiativen, es wird um Posten geschachert. Aber selbst, wenn der Luxemburger Claude Juncker zum Präsidenten der EU-Kommission gewählt werden sollte, ist er der falsche Kandidat zur falschen Zeit. Kein US-Präsident, kein Präsident in Moskau, kein Mächtiger im Nahen Osten wird auf die Idee kommen, mit ihm zu telefonieren.
Spätestens mit dem Vormarsch der radikalen Weltveränderer der Isis in Richtung Bagdad ist deutlich geworden, dass die Probleme der Welt ganz nahe an Europa herangerückt sind. Amerika, China, andere Wachstumsräume, sind vergleichsweise sehr weit weg. Dringend erforderlich ist nun eine auch offen praktizierte Führungsrolle Deutschlands, um mit der Mehrfachkrise Russland/Ukraine, Syrien/Irak, wachsende Instabilität zwischen Kairo und Tunis, fertig zu werden. Ministerpräsident Erdoğan kann dabei (wieder) zu einem sehr wichtigen Partner der Europäer werden – wenn er will.
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