Zumindest drei Bedingungen, die zum Gelingen erforderlich wären, werden nach dem Stand der Dinge nicht eintreten. Die Türkei, in der die Bundeskanzlerin ein Schlüsselland für die Bewältigung und Eindämmung der Flüchtlingsströme sieht, ist in ihrer momentanen Verfassung kein verlässlicher Partner. In Wahrheit herrscht in Teilen des Landes an der Schnittstelle von Europa zur muslimischen Welt Bürgerkrieg, droht der freien Presse in diesen Wochen und Monaten die Strangulation. Zweitens sieht es nicht danach aus, als wenn die Europäische Union es schaffen könnte, die Außengrenzen der Gemeinschaft abzusichern. Was Merkel als Unmöglichkeit für Deutschland bezeichnet hat, kann entlang der langen Mittelmeerküsten der EU erst recht nicht funktionieren. Griechenland und andere EU-Staaten werden einem tiefgehenden Eingriff in ihre Souveränitätsrechte nicht zustimmen, und wahrscheinlich sind die geplanten ‚hotspots‘ eine organisatorische Unmöglichkeit. Und drittens gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass es zu einer Aufteilung der Flüchtlinge auf die Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft kommen wird. Was die EU in dieser Hinsicht in letzter Zeit verabredete, ist das Papier nicht wert, auf dem es steht. Wenn dieser Befund zutrifft, wird 2016 zum Entscheidungsjahr für Europa.
Deutschland hat sich in den letzten Tagen außenpolitisch mit einem Tempo bewegt, das gemessen an dem, was während der letzten Jahre passierte oder besser: nicht passierte, als atemberaubend zu bezeichnen ist. Die Gründe, die dafür offiziell genannt werden, überzeugen nicht. Vermutlich handelt es sich um den letzten Versuch Merkels, in der Flüchtlingskrise den Kopf über Wasser zu behalten. Der Ausgang ist offen.
Tatsache ist, dass die Bundesrepublik mit ihrer Entscheidung, sich am Syrien-Konflikt militärisch zu beteiligen, einen Sprung in die Weltpolitik gewagt hat. Mit dem Afghanistan-Einsatz ist der Entschluss, den das Parlament im Eilverfahren besiegelte, nicht zu vergleichen, auch nicht mit dem Einsatz deutscher Flugzeuge im Kosovo-Krieg. Denn nun ist Deutschland ein Akteur, der ein überragendes Interesse daran haben muss, dass nicht nur der IS geschlagen wird, sondern dass in der Region Verhältnisse einkehren, die sehr bald dazu führen, dass die Menschen bleiben können, dass sie aus den Flüchtlingslagern in der Türkei, in Jordanien und im Libanon nach Hause zurückkehren.
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Noch immer haben es die Menschen, die sich der Gülen-Bewegung (auch Hizmet) verbunden fühlen, in Deutschland nicht leicht. Aber wenn die 2. Jahrestagung der Stiftung Dialog und Bildung, die am Wochenende in einem Hotel an der Frankfurter Peripherie stattfand, ein Gradmesser war, dann sind die ermutigenden Zeichen und Fortschritte unübersehbar. Das liegt zum einen daran, dass sich die Bewegung als eine lernende ansieht, zum anderen daran, dass das Interesse der Wissenschaft und der Qualitätsmedien an Hizmet wächst.
Das gut besuchte zweitätige Treffen, an dem etwa 100 aus dem gesamten Bundesgebiet, aus Österreich und der Schweiz angereiste Personen teilnahmen, verzeichnete eine ganze Reihe von Höhepunkten. Die vielleicht bewegendsten Minuten gab es bei der Verleihung des Dialog-Preises an den aus Äthiopien stammenden Prinzen Asfa-Wossen Asferate, der seit 30 Jahren in der Bundesrepublik lebt und einem größeren Publikum durch sein hinreißendes Buch „Manieren“ bekannt ist – wenn man so will, eine Kulturgeschichte Deutschlands. Man konnte eine Stecknadel fallen hören, als er von seinem uralten, aus dem Hause David stammenden Geschlecht erzählte, von der Rolle Äthiopiens als erstem Zufluchtsort für in Bedrängnis geratene Muslime im 7. Jahrhundert! Der so Geehrte nutzte die Preisverleihung, einen Friedensappell an die europäische Gesellschaft, ja an die Weltgesellschaft zu richten. Denn unausgesprochen überschatteten die jüngsten Ereignisse von Paris den Gedankenaustausch, der angesichts der globalen Herausforderungen im Zeichen des Engagements von Hizmet für universelle Werte stand.
Ich träume noch immer von einer Symbiose von Abend- und Morgenland, versinnbildlicht im Fries der Kathedrale des sizilianischen Cefalù, das arabische Baumeister mit christlichen und muslimischen Symbolen versehen haben. Vor einem Jahr war ich um diese Zeit in Istanbul, nun habe ich meine nahöstliche Etappenreise mit Aufenthalten in Israel, Jordanien und Ägypten fortgesetzt. Viele Deutsche meiden diese Region, sie halten sie für gefährlich. Meine aus dem Libanon stammende Gastgeberin findet dazu beim Stopp im oberägyptischen Luxor die richtigen Worte: „Überall auf der Welt kann etwas passieren“.
Die Geschichte der deutsch-türkischen Beziehungen legt es nahe, auch das aktuelle Verhältnis unter langfristigen Gesichtspunkten zu sehen. Denn beide Staaten unterhalten seit über 200 Jahren diplomatische Beziehungen, die Eliten kannten sich, während des Ersten Weltkrieges gab es sogar eine Waffenbrüderschaft, die in Deutschland vergessen ist, in der Türkei nicht. Als zu Beginn des Dritten Reiches Menschen in Gefahr gerieten, Wissenschaftler, Oppositionelle, deutsche jüdische Staatsbürger, nahm die Türkei die Bedrängten auf. Bis zum heutigen Tag fußen die Kontakte im Wissenschaftsbetrieb beider Länder auf dieser erzwungenen Begegnung.
Zu dem freundschaftlichen Verhältnis der Türkei zum lange Zeit fernen Partner – für Deutschland keine Selbstverständlichkeit angesichts der Verbrechen des Dritten Reiches und der Erfahrungen vieler europäischer Länder unter deutscher Besatzung im Zweiten Weltkrieg – ist die Beziehung der ganz besonderen Art, wie ich sie nennen möchte, durch die Gastarbeiter hinzugekommen. Viele gingen zurück, viele blieben. Von der zweiten Generation an hat eine Annäherung an das Gastland stattgefunden, die mittlerweile dazu geführt hat, dass sich Millionen von Menschen in der Bundesrepublik als bewusste Deutsche mit türkischen Wurzeln sehen. Wenn man so will, ist ein Dreiecksverhältnis zwischen Deutschland und der Türkei entstanden, hier die Bundesrepublik, dort die Türkei und als verbindendes Element unzählige Menschen mit mehrfacher Identität. Diese Tatsache muss die Politik in Rechnung stellen, oder anders formuliert: der Draht zwischen Berlin und Ankara darf nie abreißen. Er muss selbst in politisch schwierigen Zeiten genauso existieren wie es ihn einmal zwischen der Bundesrepublik und der DDR gab.
Natürlich ist es wichtig und lohnenswert, sich von Zeit zu Zeit Gedanken über das eigene Land zu machen. Aber es ist schon ungewöhnlich, dass man seit 10 Jahren von einer Bundeskanzlerin regiert wird und sich plötzlich fragt, wer sie ist und vor allem, was sie in der Flüchtlingsfrage vor hat. Wie nicht anders zu erwarten, sind die Tage einer gewissen Euphorie vorbei, der Winter naht, und der Zustrom der Flüchtlinge ist ungebrochen. Bundeskanzlerin Angela Merkel weigert sich, Obergrenzen zu nennen, ja überhaupt mit Zahlen zu arbeiten. Aber Zahlen sind die Grundlage des Regierungsgeschäfts, ohne Zahlen ist rationales politisches Handeln nicht möglich.
Dennoch ist verständlich, dass sich viele Menschen für die deutsche Willkommenskultur, für das Vorbild, das die Kanzlerin abgibt, begeistern, eine große Zahl von ehrenamtlichen Helfern, von Menschen, die etwas spenden, die etwas für die Neuankömmlinge tun. Auch von den Deutschtürken, die sich an den schwierigen Beginn von Eltern und Großeltern in Deutschland erinnern, ist viel Positives über die Bundeskanzlerin zu hören. Aber es gibt auch besorgte Fragen nach der Zukunft, nach einer Verschärfung von Gesetzen, die, so wird befürchtet, Auswirkungen auf die Menschen haben könnten, die in letzter Zeit in die Bundesrepublik gekommen sind, die z.B. den deutschen Pass noch nicht haben, sich aber hier schon zu Hause fühlen.
Es fällt gegenwärtig schwer, sich in diesem Lande zu orientieren. Glaubhafte politische Führung findet nicht statt. Die Politiker hecheln den Ereignissen hinterher. Seit Wochen gibt es kein anderes Thema als die Flüchtlinge. Um eines sogleich klar zu machen: 800 000 Menschen in diesem Jahr Schutz und Unterschlupf zu gewähren, dem größeren Teil eine langfristige Perspektive zu bieten, sollten einem großen und wohlhabenden Staat wie der Bundesrepublik Deutschland nicht schwer fallen. Aber was kommt danach? Was passiert, wenn die Flüchtlingszahlen in den kommenden Jahren steigen, wenn das, was wir gegenwärtig erleben, nur der Beginn einer gigantischen Völkerwanderung ist?
Es ist genau dies, was den Menschen Sorgen macht, nicht nur dem häufig genannten rechten Rand, sondern auch der Mitte. Man muss nur die Leserbriefe in den großen Tageszeitungen anklicken, die sich binnen kurzer Zeit geradezu lawinenartig aufbauen, wenn es einen größeren Beitrag zu der Thematik gegeben hat. Es sind Warnzeichen, Hinweise auf eine große Unruhe, die das Land erfasst hat.
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Vor einigen Tagen saß ich in München in einem Café, neben mir ein jüngerer, italienisch aussehender Mann mit seinem Sohn. Unsere Blicke kreuzten sich, ich spürte ein Interesse, zu akzeptierende Neugier, irgendwann kamen wir miteinander in ein sehr nettes, lebhaftes Gespräch. Der Mann stellte sich als ein Deutscher türkischer Abstammung heraus. Er war Unternehmer. Sehr schnell landeten wir bei unseren Familiengeschichten. Ich fragte ihn nach der türkischen Region, aus der seine Eltern einst nach Westen aufgebrochen waren und mein Tischnachbar erzählte mir, dass die Familie eigentlich aus Bagdad komme. Und ein wenig stolz fügte er hinzu, dass sie vom Kalifen Ali, einem Cousin des Propheten, direkt abstamme.
In diesem Land schien Spontanität und Empathie bei vielen Menschen in Deutschland abhanden gekommen zu sein. Der Fall der inzwischen verstorbenen Tuğçe zeigt aber das Gegenteil. Der tragische Tod der Studentin Tuğçe A. hat Wellen geschlagen. Zusammen mit einer Reihe weiterer Ereignisse, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, gestattet er eine schmerzhafte Momentaufnahme zur Situation und Gefühlslage der türkischstämmigen Deutschen.
Zunächst zeigt die spontane Reaktion im Rhein-Main-Gebiet mit der Beteiligung von Tausenden von Menschen an Mahnwachen ein großes Ausmaß an Empathie. Spontanität und Empathie ist vielen Menschen in Deutschland abhanden gekommen. Gleichzeitig stellt das Zusammenkommen vieler Menschen aber auch eine Form von stillem Protest dar: „Die Mehrheitsgesellschaft schützt uns nicht genug“, so der unartikulierte Vorwurf, angefangen bei den Mitarbeitern des Schnellrestaurants, die den Tod der Studentin durch ein beherztes Eingreifen vielleicht hätten verhindern können, wie die Familie von Tuğçe glaubt.
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