Einem moderaten Auftreten beim Staatsbesuch in Brüssel steht eine umso kompromisslosere innenpolitische Linie im Wahljahr gegenüber: Premierminister Erdoğan scheint auf die Meinung des Westens zu seiner Politik derzeit wenig Wert zu legen.
Das Bild der Deutschen über den türkischen Premierminister Recep Tayyip Erdoğan steht seit einer Reihe von Jahren fest: Laute, sehr männlich wirkende und auftretende Politiker sind in der deutschen Politik zurzeit verpönt, die Zeiten eines Franz Josef Strauß, eines Helmut Schmidt oder auch eines Gerhard Schröder sind lange vorbei. Der greise Ex-Kanzler ist leise geworden, die deutsche Politik sehr „weiblich“.
Viele sahen sich daher in ihrer Auffassung über Erdoğan bestätigt, als es gegen Ende des letzten Jahres zu den jüngsten Entwicklungen in der türkischen Innenpolitik kam. Selbst wohlmeinende Beobachter zeigten sich darüber entsetzt, wie leichtfertig Erdoğan über das Gebot der Gewaltenteilung hinwegging, Staatsanwälte, Richter und Polizeibeamte versetzte und Andersdenkende einschüchterte, wenn nicht sogar bedrohte. Vor allem der Konflikt zwischen dem Regierungschef und der Hizmet-Bewegung wurde in den deutschen Medien ausführlich behandelt.
Aber wenn es in Deutschland um die türkische Innenpolitik geht, handelt sich zumeist um kurze Erregungszustände, die rasch abklingen. Was fehlt, ist eine unaufgeregte, langfristig orientierte Berichterstattung, die den Deutschen das wichtige Partnerland in vielen Aspekten nahebringt. Das öffentliche Interesse an dem kurzen Berlin-Besuch Erdoğans Anfang Februar 2014, dem wenige Tage zuvor eine Reise zur EU nach Brüssel vorausgegangen war, war daher nicht sonderlich groß. Bemerkt wurde allgemein eine Veränderung in der Tonlage.
Der türkische Regierungschef nahm sich bei seinen öffentlichen Auftritten vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und vor mehreren tausend Landsleuten im Berliner Tempodrom zurück, und die Gastgeber dankten es ihm. Sie stellten ihn wegen seiner massiven Grenzüberschreitungen im eigenen Lande nicht allzu sehr an den Pranger.
Syrien zeigt, dass man aufeinander angewiesen ist
Ein Thema kam öffentlich weniger stark zur Sprache, dürfte jedoch die Ursache für die Zurückhaltung in Brüssel und Berlin gewesen sein: der Bürgerkrieg in Syrien und die Rolle der Türkei, vor allem die Katastrophe auf humanitärem Gebiet. In Berlin und in der EU ist man sich bewusst, wie wichtig die Türkei im Nahen Osten ist. Aber nicht nur dort: Man ist aufeinander angewiesen. Viele Investitionen aus dem EU-Raum gehen an den Bosporus. Während der Regierungszeit Erdoğan ist eine Menge passiert. Das ist in den europäischen Hauptstädten nicht vergessen worden, somit hat Erdoğan trotz des fallenden Lirakurses in den westlichen Hauptstädten immer noch einen erheblichen Kredit. Stolz konnte er daher mitteilen, dass sein Land mittlerweile zu den wirtschaftlichen führenden Nationen auf der Welt zählt, es liegt auf Platz 18.
Der türkische Premierminister hat, wie nicht anders zu erwarten war, bei seinen Arbeitsbesuchen seine innenpolitische Vorgehensweise verteidigt und an beiden Orten für eine Vollmitgliedschaft seines Landes in der EU geworben. Beide Seiten wissen, dass kein allzu großer Zeitdruck besteht. Erst im November 2013 haben die Beitrittsverhandlungen zwischen Ankara und Brüssel wieder ein wenig an Fahrt aufgenommen. Mit Spannung darf nun darauf gewartet werden, wie sich die Gespräche in den nächsten Monaten gestalten, denn ausgerechnet jetzt stehen zwei brisante Kapitel an, die Justiz und die Grundrechte. In Deutschland wird mit besonderem Interesse verfolgt, wie es um die Freiheit der Presse steht. Es trägt nicht zum positiven Image der Türkei bei, dass eine erhebliche Zahl von Journalisten im Gefängnis sitzt.
Kontinuierliche Gespräche wären wichtig
Mit Sorge werden Erdoğans Gesprächspartner in Brüssel und Berlin vernommen haben, dass er nicht gedenkt, vom eingeschlagenen innenpolitischen Kurs abzuweichen. Die anhaltenden Umbesetzungen von Personal, die zunehmende Kontrolle des Internets und die am Wochenende unter tumultartigen Umständen im Parlament verabschiedete Justizreform waren dann Belege dafür, dass Erdoğan es ernst meint und ihm die öffentliche Meinung des Westens in einem Wahljahr nicht wichtig ist.
Eine gemäßigte Tonlage bei den Begegnungen in Brüssel und in Berlin kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es an kontinuierlichen Gesprächen zwischen der Türkei und Westeuropa mangelt. Erdoğan scheint den Westen nicht zu verstehen, und die westeuropäische politische Klasse neigt dazu, zu rasch ihr Urteil über ein Land zu fällen, das einen risikoreichen Kurs gewählt hat, Rückschläge mit eingeschlossen. Dennoch bleibt die Hoffnung, dass die Türkei am Ende nicht den Weg gehen wird, den Russland trotz unzähliger Gespräche mit dem Westen auf allen Ebenen und Olympischer Spiele eingeschlagen hat.
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