Vor einigen Tagen saß ich in München in einem Café, neben mir ein jüngerer, italienisch aussehender Mann mit seinem Sohn. Unsere Blicke kreuzten sich, ich spürte ein Interesse, zu akzeptierende Neugier, irgendwann kamen wir miteinander in ein sehr nettes, lebhaftes Gespräch. Der Mann stellte sich als ein Deutscher türkischer Abstammung heraus. Er war Unternehmer. Sehr schnell landeten wir bei unseren Familiengeschichten. Ich fragte ihn nach der türkischen Region, aus der seine Eltern einst nach Westen aufgebrochen waren und mein Tischnachbar erzählte mir, dass die Familie eigentlich aus Bagdad komme. Und ein wenig stolz fügte er hinzu, dass sie vom Kalifen Ali, einem Cousin des Propheten, direkt abstamme.
Wenn man durch die Straßen von New York läuft, fallen einem sogleich die Feuertreppen auf, die an den Flanken der Häuser angebracht sind, sich mitunter aber auch an jener Hauswand…
Deutsche und Deutschtürken sind sich in der letzten Woche auf Augenhöhe begegnet, eine wichtige Feststellung in unruhigen Tagen, in denen die Schreckensmeldungen aus Paris und aus dem belgischen Verviers zu uns herüberschwappten. Weniger sind damit die sichtlich bemühten Ausführungen des türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu bei seinem Berlin-Besuch und einem Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen gemeint, in dem es auch um die Pressefreiheit in der Türkei und um die Gülen-Bewegung ging. Sie können aufgrund der Vergleiche nur ungläubiges Kopfschütteln hervorrufen, vor allem bei den journalistischen Berufskollegen, die wegen ihres Mutes zur Wahrheit im Gefängnis sitzen. Aber auf der anderen Seite haben wir in diesen Tagen auch gesehen, was Zivilcourage und untergehaktes Demonstrieren in der Öffentlichkeit bewirken können. „Entscheidend ist, dass wir miteinander reden“, sagte mir eine junge Deutsche mit türkischen Wurzeln, die sich seit Jahren um den Dialog der Kulturen im Großraum Mannheim bemüht.
Ohne die fortdauernden Risiken kleinreden zu wollen, lässt sich feststellen, dass in Deutschland ein anderes öffentliches Meinungsklima als in Frankreich herrscht. Dort kommt Vieles zusammen: das nicht bewältigte koloniale Kapitel der Franzosen in Nordafrika, die Probleme der Eingliederung der „weißen“ Algerien-Rückkehrer seit den 1960er Jahren, die nachfolgende massenhafte Zuwanderung von Muslimen und ihre unzureichende Unterbringung in den Wohnmaschinen der französischen Vorstädte, enorme Jugendarbeitslosigkeit und das Aufeinandertreffen auf die größte jüdische Minderheit Europas, bei dem von der einen Seite die Parolen und Kampfbegriffe des Nahen Ostens, verbunden mit wachsender, unakzeptabler Gewalt eingesetzt werden.
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Weihnachten, normalerweise das große, besinnliche Familienfest, wird für viele Menschen in diesem Jahr einen anderen Verlauf nehmen. Sie müssen sich Sorgen machen. Denn zu den Ländern, aus denen beunruhigende Nachrichten kommen, zählt seit Neuestem auch die Türkei. Die Zukunft unabhängiger Medien steht dort auf dem Spiel, die Jobs der Kollegen sind in Gefahr, eine nicht unbeträchtliche Zahl von türkischen Journalisten wird sich über Weihnachten im Gefängnis befinden, unter ihnen Menschen, denen ich in den letzten Jahren begegnet bin. Ich teile mit ihnen das Verständnis von unserem Beruf, ich sehe die Welt wie sie. Und ich weiß aus der deutschen Erfahrung, dass der Verlust der Pressefreiheit in der Regel schwerwiegende Konsequenzen hat.
Weiterlesen Die Deutschen haben viele Stärken, Empathie gehört nicht dazu
In diesem Land schien Spontanität und Empathie bei vielen Menschen in Deutschland abhanden gekommen zu sein. Der Fall der inzwischen verstorbenen Tuğçe zeigt aber das Gegenteil. Der tragische Tod der Studentin Tuğçe A. hat Wellen geschlagen. Zusammen mit einer Reihe weiterer Ereignisse, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, gestattet er eine schmerzhafte Momentaufnahme zur Situation und Gefühlslage der türkischstämmigen Deutschen.
Zunächst zeigt die spontane Reaktion im Rhein-Main-Gebiet mit der Beteiligung von Tausenden von Menschen an Mahnwachen ein großes Ausmaß an Empathie. Spontanität und Empathie ist vielen Menschen in Deutschland abhanden gekommen. Gleichzeitig stellt das Zusammenkommen vieler Menschen aber auch eine Form von stillem Protest dar: „Die Mehrheitsgesellschaft schützt uns nicht genug“, so der unartikulierte Vorwurf, angefangen bei den Mitarbeitern des Schnellrestaurants, die den Tod der Studentin durch ein beherztes Eingreifen vielleicht hätten verhindern können, wie die Familie von Tuğçe glaubt.
Für die Deutsch-Türken, im Grunde genommen für alle Einwanderer der letzten Jahrzehnte, war der 9. November 2014, der 25. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer, nicht ganz einfach zu verstehen. Die Mehrheitsdeutschen waren weitgehend unter sich, man feierte einen nationalen Gedenktag, den schönsten Tag in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die Neuhinzugekommenen blieben – von Ausnahmen abgesehen – außen vor. Besonders ausgelassen feierte man in den Berliner Stadtteilen, in denen der Verlauf der Mauer durch eine Lichterkette markiert worden war.
Wie ist dieses „nationale“ Freudenfest, das den Neuen nicht ausschließt, aber eben auch nicht ganz einschließt, zu erklären? Ich glaube, es hat eine Menge mit der Verspätung der Ostdeutschen zu tun, Teil der Nation zu werden, an ihrem Wohlstand zu partizipieren und Frieden mit der der Geschichte zu machen. Denn es waren die Ostdeutschen, die vor allem für die katastrophal verlaufene Geschichte zwischen 1933-1945 bezahlt haben, die jahrzehntelang zu den unterdrückten Völkern Osteuropas gehörten, bis sie endlich die Freiheit erlangten, voran die Freiheit, zu reisen. Würde man unter den heutigen Ostdeutschen zwischen 25 und 55 eine Umfrage machen, würde sich herausstellen, dass sie mehr als die Westdeutschen gereist sind, dass sie wie im Rausch das nachgeholt haben, was ihnen lange Zeit verwehrt war. „Ich habe fest daran geglaubt, eines Tages London und Paris zu sehen“, sagte mir dieser Tage eine Galeristin aus Potsdam.
Zugegeben, wir leben in einer Zufallsbeziehung. Gewiss, da gibt es eine Geschichte deutsch-türkischer militärischer Zusammenarbeit, vor 100 Jahren auch „Waffenbrüderschaft“ genannt, aber davon wissen die Deutschen nur wenig, und die Deutschtürken haben gemerkt, das man besser an diese Zeiten nicht erinnert. Wenig bekannt ist auch, dass die Türkei nach 1933 ein Zufluchtsort für vom NS-Regime bedrängte Persönlichkeiten war, unter ihnen der spätere Regierende Bürgermeister von Berlin Ernst Reuter.
Der Zufall hat sich im Laufe der 50 Jahre, in denen es eine Einwanderung nach Deutschland aus der Türkei gibt, strukturiert. Die Kinder der Gastarbeiter haben gelernt, ihre Vorstellungen und Wünsche zu artikulieren, das Schweigen der Väter zu durchbrechen, und die Enkel aus der dritten Generation, die sich in bemerkenswerten Zahlen von den Lehren Fethullah Gülens angesprochen fühlen, haben den Weg an die Spitze der deutschen Arbeitsgesellschaft geschafft, oder anders formuliert, der Wissens und Ausbildungsvorsprung der vergleichbaren Gruppe der Mehrheitsgesellschaft ist aufgeholt.
Die Optionspflicht soll bald Geschichte sein, der Doppelpass kommen. Doch werden damit die Probleme der Menschen gelöst? Wann werden „Einheimische“ und „Zuwanderer“ in ihrem Alltag einen Doppelpass spielen? Die meisten…
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Ob Europa es wahrhaben will oder nicht: Seine alternden, satten Gesellschaften werden früher oder später sich mit Wanderungsbewegungen arrangieren müssen, die heute erst im Entstehen begriffen sind. Bewältigen lässt sich…
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