In den Tagen des letzten Gaza-Krieges sind bei einer Demonstration in Berlin Parolen skandiert worden, gegen die die Polizei sofort hätte vorgehen müssen. Es waren unfassbare antisemitische Slogans, wie sie in Deutschland seit 1945 nicht mehr zu hören waren. Und solche dürfen auch dann nicht fallen, wenn die Emotionen hoch gehen. Denn sie haben mit dem aktuellen Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern, zu dem man sehr unterschiedliche Meinungen haben kann, nichts zu tun.
Mit einigen Wochen Verspätung kam es nun am Wochenende zu einer Gegendemonstration unter dem Motto: „Steh auf – nie wieder Judenhass“, bei der die Bundeskanzlerin eine Rede hielt. Angela Merkel verurteilte dabei mit deutlichen Worten nicht nur die Hassparolen, die im Rahmen der Demonstrationen skandiert worden waren, sondern auch Übergriffe auf Kippaträger im Alltag und die Schändung von Friedhöfen und Synagogen.
„Mit dieser Kundgebung machen wir unmissverständlich klar: Jüdisches Leben gehört zu uns. Es ist Teil unserer Identität und Kultur“, äußerte die Kanzlerin und verurteilte im Namen der gesamten Bundesregierung Judenfeindlichkeit in Deutschland und Europa sowie antisemitische Äußerungen und Übergriffe.
„Deshalb nehmen unsere Sicherheitsbehörden jeden Übergriff auf Juden und jüdische Einrichtungen sehr ernst“, führte die Bundeskanzlerin weiter aus. „Ich sage: Das muss auch so sein – in jedem einzelnen Falle. Antisemitische Straftaten werden konsequent mit allen rechtsstaatlichen Mitteln verfolgt. Das gilt im Übrigen auch für Angriffe auf Moscheen. Auch sie nehmen wir nicht hin, auch sie werden konsequent verfolgt.“
Die Bundesregierung unterstütze hierzu vielfältige Aktivitäten wie Projekte, die Toleranz fördern, Sozialkompetenz und Demokratieverständnis stärken; gerade auch für die Jugend- und Elternarbeit. „Denn wir müssen bereits in den Familien allen Formen extremistischer und weltanschaulicher Diskriminierung und Gewalt den Boden entziehen.“
„Seltsam unpartizipative Veranstaltung“
So lobenswert die Worte der Bundeskanzlerin auch sind: Derartige Veranstaltungen gibt es oft in Deutschland, sie werden genauestens geplant, in Gremien besprochen. Was ihnen fehlt, ist Spontaneität. Das bestätigen im Übrigen auch Stimmen aus der jüdischen Community. Sergey Lagodinsky von der Heinrich-Böll-Stiftung sprach etwa auf seiner Facebook-Pinnwand von einer „seltsam unpartizipativen und sehr bemühten Veranstaltung“ und bemängelte, ältere und mittellose Gemeindemitglieder seien auf Kosten des Zentralrats der Juden in Deutschland in Bussen herangekarrt worden, aber im Unterschied zu den bestens geschützten Politikern und Funktionären auf der Bühne schutzlos den Anfeindung durch Passanten und Gegendemonstranten ausgesetzt worden. „Diese Kundgebung steht für mich für gar nichts, außer für den weiten Abstand zwischen den Eliten und den Mitgliedern der Gemeinden“, schrieb Lagodinsky.
Zur Überraschung vieler Teilnehmer hielt zudem kein Vertreter der in Deutschland lebenden Muslime bei der Kundgebung eine Rede. Grünen-Chef Cem Özdemir bedauerte dies und teilte auf Twitter mit, dass Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime, eine Rede hätte halten können. „Er war ja da!“ Wie das MiGAZIN berichtet, war eine Rede eines muslimischen Vertreters allerdings nicht vorgesehen. Der Koordinationsrat der Muslime, der Dachverband der größten islamischen Religionsgemeinschaften in Deutschland, war nicht eingeladen.
Einen Mangel an Spontaneität, an sofortiger Reaktion auf ein Ereignis, kann man zurzeit an vielen Orten feststellen, wie unlängst beim Brandanschlag auf eine Berliner Moschee. Man muss dann nicht unbedingt auf das Ergebnis polizeilicher Untersuchungen warten, wichtig ist, dass man eine Reaktion zeigt. Denn diese schafft bei den Betroffenen Sicherheit. Und sie ist eine Handlung gegen das Misstrauen.
Medien vergiften durch Sensationalismus das gesellschaftliche Klima
Seien wir ehrlich, es gibt in diesen Tagen viel Misstrauen in Deutschland angesichts der Vorgänge im Nahen Osten. Die unübersichtliche politische Lage in der Türkei tut ihr übriges, um zu fragen, welche Auswirkungen die Ereignisse auf Deutschland haben könnten. Einzelmeldungen wie jene über den Auftritt einer sogenannten Scharia-Polizei in Wuppertal, die Zahl von deutschen IS-Kämpfern in Syrien, die Ermordung eines deutschen Urlauberpaares in der Türkei sorgen dann binnen weniger Tage für ein gereiztes öffentliches Klima, in dem Differenzierungen unter den Tisch fallen und der Islam pauschal als eine einzige große „Einbruch“- und Risikozone angesehen wird. Auch die neue Partei AfD, die mit sensationellen Wahlerfolgen von sich reden macht, ist ein Indiz für wachsendes Misstrauen in der Gesellschaft.
Wie kann man dem begegnen? In erster Linie durch das Gespräch – in der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz, in Vereinen, aber auch – und das ist nicht zu unterschätzen – durch Spontaneität. Ein „es tut mir leid“, ein Händeschütteln beim Einkaufen, ein Klaps auf den Oberarm, das Hinausheben eines Kinderwagens aus der Straßenbahn, den eine kopftuchtragende junge Frau schiebt, können Wunder bewirken. Entscheidend ist der Moment, wenn man so will: die befreiende Geste, die Tat.
Mit Gesetzen, mit Vorschriften lässt sich ein derartiges Klima des Miteinanders, des einander Vertrauens nicht erreichen. Es muss aus dem Bauch kommen. Deutsche und Deutschtürken leben nun in der vierten Generation zusammen, anders gesagt, es sollten sich allmählich Selbstverständlichkeiten herausgebildet haben, zu denen auch der Abgleich von Stärken und Schwächen gehört. Zu den Stärken der Neubürger gehören familiärer Zusammenhalt, den die Mehrheitsgesellschaft bedauerlicherweise immer mehr verliert, Gastfreundschaft und eben auch Spontaneität. Man muss sich nur am Samstagmorgen auf einem Berliner Wochenmarkt umschauen, um festzustellen, dass dem so ist.
Deutsche Sicht auf Gülen-Bewegung im Wandel
Daraus sollte sich Gelassenheit entwickeln, Gelassenheit gegenüber mancher Aufgeregtheit in der Mehrheitsgesellschaft, Ruhe und Abgeklärtheit, wenn die Kritik am Islam aufgrund von aktuellen Ereignissen wieder einmal überschießt.
Wenn der Eindruck nicht täuscht, haben die dramatischen Ereignisse im Nahen Osten, das rabiate Vorgehen von Erdoğan gegen Oppositionsgruppen, für eine Beruhigung der Debatte um die Gülen-Bewegung in Deutschland gesorgt. Allmählich scheint es selbst den schärfsten Kritikern zu dämmern, dass eine Reformbewegung, die dem Thema Bildung absolute Priorität gibt, dämpfend auf gesellschaftliche Konflikte wirkt, auf Ereignisse, die von außen kommen. Nicht von ungefähr traf daher unlängst aus dem Rhein-Main-Gebiet, wo der Kampf um Schulen der Bewegung zurzeit besonders heftig tobt, eine erlösende Meldung ein. Ein Politiker der Grünen, ein Staatssekretär, äußerte öffentlich sein Bedauern angesichts der Kampagnen, die gegen die Anhänger von Fethullah Gülen gefahren werden. Es war ein Aufruf gegen das Misstrauen.
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