Die Deutschtürken seien erstaunlich resistent geblieben „gegen jede Form von Aufstiegsdenken oder Weiterbildungsangeboten“, stellte Prof. Dr. Wehler neulich fest. Scheinbar kennt er die Verhältnisse in Deutschland nicht mehr.
Das Problem vieler integrationskritischer Bücher, die in Deutschland zurzeit massenhaft Absatz finden, besteht darin, dass sie bestenfalls die Gegenwart beschreiben, vielleicht nur das Vorgestern. Aber das Bonmot eines früheren britischen Premiers, wonach 24 Stunden in der Politik eine verdammt lange Zeit seien, gilt auch für die Gesellschaft: Nachrichten und Erkenntnisse verändern unsere Beurteilung der Welt, Kinder werden geboren, mit denen sich Optimismus und Hoffnungen der Eltern verbinden. Zwei Jahrzehnte bin ich meinem Nachbarn, der eine Etage unter mir wohnt, so gut wie nicht begegnet. Vor ein paar Tagen hielt er mir beim Heimkommen gegen Mitternacht freundlich die Haustür auf, und wir tauschten ein paar nette Worte miteinander aus, als wir das Treppenhaus gemeinsam hinaufstiegen und uns an seiner Tür voneinander verabschiedeten.
Unter solchen Umständen nimmt es sich merkwürdig aus, dass ausgerechnet der Altmeister der deutschen Geschichtswissenschaft, Prof. Dr. Hans-Ulrich Wehler, bei einem SPIEGEL-Interview in der vergangenen Woche zu einem Rundumschlag gegen die Deutschtürken ausgeholt hat. Zur Entlastung kann lediglich angeführt werden, dass der Wissenschaftler, der u.a. eine voluminöse deutsche Gesellschaftsgeschichte verfasste, mittlerweile 81 Jahre alt ist. Das mag eine gewisse Starre erklären. Man wusste von ihm, dass er der Ansicht ist, Sarrazin habe in seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ viele Fehlentwicklungen richtig beschrieben. Aber im Interview wird Wehler nun schärfer: „Die Türken sind hier, um für sich zu bleiben“, sagt er. Im Gegensatz zu anderen Einwanderer-Gruppen seien sie erstaunlich resistent geblieben „gegen jede Form von Aufstiegsdenken oder Weiterbildungsangeboten“.
Da kann man Wehler nur entgegenhalten, dass er die Verhältnisse in Deutschland nicht mehr kennt. Gewiss, die Lage für die Deutschtürken in der Hauptstadt ist hinsichtlich der Bildung und Qualifizierung für anspruchsvollere Tätigkeiten die schwierigste, aber im Westen und Süden der Republik sieht es ganz anders aus. Der Anfang des Jahres aus dem Amt geschiedene Stuttgarter Oberbürgermeister Schuster hat in einer seiner letzten offiziellen Reden bei einer Schuleröffnung vor allem Buschkowsky widersprochen: Neukölln ist nicht überall. Schuster mahnte bei dieser Gelegenheit auch ein neues Türkei-Bild der Deutschen an. Zu den großen Veränderungsfaktoren zählte er jene 1,5 Millionen Türken, die nach einem längeren Aufenthalt in der Bundesrepublik mit ihren Familien in die Heimat zurückgekehrt sind.
Einmal in Schwung gekommen, fährt Wehler in seinem Interview fort, dass so manches deutsches Stadtviertel eine türkische Kleinstadt geworden sei. Türkische Studenten fände man leider selten. Zwar müssen man die Menschen nun als Staatsbürger akzeptieren. „Aber die Türken“, so der Professor, „werden immer extrem unterstützungsbedürftig bleiben“.
„Wehlers These hat wenig mit der Realität zu tun“
Ich finde, das ist eine ziemlich kühne These, die mit der Berliner Realität wenig zu tun hat. Denn die Deutschtürken entziehen sich zunehmend den allgemein gängigen Klischees. Sie finden sich keineswegs mit ihrem Dasein in der Unterschicht ab, sondern experimentieren im Dienstleistungsbereich. Im bürgerlichen Stadtteil Charlottenburg haben sie ganze Straßenblocks zu neuem Leben erweckt. Es gibt aber auch deutliche Anzeichen für ein Umdenken in den Familien, für eine wachsende Emanzipation der Ehefrauen und Mütter. Zwei Bespiele seien an dieser Stelle angeführt: im ersten Fall holte eine zweifache Mutter den Haupt- und Realschulabschluss nach, machte das Abitur und arbeitet nach einem in Rekordzeit absolviertem Studium nun als Informatikerin. In einem zweiten Fall ermunterte eine deutsch-türkische Mutter ihren Sohn, seine Fähigkeiten zu nutzen. Auch dieser Junge holte die zunächst verpassten Abschlüsse nach und erwarb mit der besten Abiturnote, die bislang an diesem Berliner Privatgymnasium vergeben wurde, die Studienberechtigung. Man könnte diese Beispiele als Einzelfälle abtun, wenn es nicht weitere starke Hinweise auf eine Ausdifferenzierung der deutsch-türkischen Minderheit, auf die Herausbildung einer bürgerlichen Mittelschicht gebe.
Völlig gehen in der Analyse von Wehler nämlich die erfolgreichen Bemühungen der Deutschtürken, die sich zur Gülen-Bewegung zählen, auf dem Gebiet der Bildung unter. Binnen eines Jahrzehnts haben sie ein flächendeckendes Angebot an Privatschulen auf die Beine gestellt. Die kritische Phase des Aufbaus liegt nun hinter diesen Einrichtungen. Sie haben Gnade vor den Augen der strengen staatlichen Prüfer gefunden, sie dürfen die Abiturprüfung abnehmen und werden neuerdings als „staatliche Ersatzschulen“ vom jeweiligen Bundesland finanziell gefördert. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann ihre Absolventen in den Seminaren von Wehler auftauchen werden. Mitunter laufen Entwicklungen schneller ab als die eigene Wahrnehmung.
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