Als sich die Europamüdigkeit bereits spürbar in zahlreichen Staaten auszubreiten begann, galten Deutschland und Frankreich noch als jenes Duo, das unermüdlich die europäische Idee beschwor. Aber auch sie leben sich zunehmend auseinander.
Von der deutschen Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt, erhielt Helmut Schmidt kürzlich eine für ihn persönlich sehr wichtige Auszeichnung: den Hans-Martin-Schleyer-Preis. Die Festrede in Stuttgart hielt Valérie Giscard d’Estaing, der ehemalige französische Präsident, Weggefährte und Freund. Derartiges ist selten geworden in den deutsch-französischen Beziehungen. Der einzige Minister, der einen engen Draht nach Paris hat, ist Wolfgang Schäuble. Er kommt aus Südbaden, wuchs an der Grenze zu Frankreich auf.
Angela Merkel, die Ostdeutsche, verbindet hingegen persönlich nichts mit Frankreich, sie macht in Italien Urlaub, in den Dolomiten und auf Ischia. Gleiches gilt für die französischen Präsidenten nach Mitterrand, für Chirac, für Sarkozy und den jetzigen Amtsinhaber Hollande. Sie haben keine eigene Beziehung zu Deutschland. Giscard d’Estaing wurde hingegen als Sohn eines hohen französischen Verwaltungsbeamten in Koblenz geboren. Viele Deutsche und Franzosen dieser Generation verband ein persönliches Erlebnis mit dem Nachbarland.
Sparpolitik wäre in Frankreich politischer Selbstmord
Je länger die europäische Finanzkrise andauert, umso deutlicher wird, dass das von Kanzlerin Merkel praktizierte Krisenmanagement auf den Partner Frankreich nicht beruhigend wirkt, sondern ihn im Gegenteil reizt. Frankreich ist ein in historischen Kategorien denkendes Land, in der Politik sind Symbole und Rituale daher sehr viel wichtiger als in Deutschland. Und sie werden noch wichtiger, wenn es einem Land wirtschaftlich nicht gut geht, wenn es sich – objektiv gesehen – im Abstieg befindet. Genau das ist bei Frankreich der Fall. Seine Gesellschaft ist nicht bereit, jene Anpassungsleistungen zu erbringen, die die Deutschen im Verlauf der letzten 10-15 Jahre erbracht hatten, um sich auf den Weltmärkten zu behaupten. Wenn Hollande dem eigenen Land die Einschnitte im Sozialbereich verordnen würde, die hierzulande erfolgt waren, hätte er den Massenprotest auf der Straße. Kein Politiker ist bereit, politischen Selbstmord zu begehen. Daher hallen Appelle wie der kürzlich von Bundesbankpräsident Weidmann formulierte, ins Leere.
Frankreich will nicht mehr sparen, es sieht sich in einem „lateinischen“ Boot zusammen mit Italien, Spanien, Portugal und in gewisser Weise auch mit Griechenland. In diesen Ländern hat man seit Generationen keine Probleme mit der Inflation. Sie gehört zum Leben dazu wie die staatlich subventionierte „Baguette“ in Frankreich. Man versteht die Deutschen nicht. Und je größer der Druck aus Berlin wird, und die größte europäische Volkswirtschaft verfügt über viele Möglichkeiten, solchen auszuüben, umso mehr wächst die Neigung in Frankreich, auf alte Bilder und Vorurteile zurückzugreifen. Darauf ist Angela Merkel nicht vorbereitet. Aber die Bundesregierung muss damit rechnen, dass der deutsche Spardruck am Ende dazu führt, dass Berlin als gnaden- und seelenloser europäischer Superkommissar angesehen wird. Damit lassen sich Stimmungen und Massen mobilisieren. Die Erinnerung an das Dritte Reich, an deutsche Besatzungszeiten, ist in den Völkern noch da.
Es fehlt die Symbolpolitik
Verpasst hat die Bundesregierung die Chance, mit symbolischen Handlungen Frankreich geneigter für seine Sparpolitik zu stimmen, es zu gemeinsamen Schritten im europäischen Integrationsprozess zu ermuntern. Die erste Gelegenheit wäre eine deutsche Beteiligung an der Befreiung Libyens gewesen, die zweite Mali. Wenn die Bundeswehr sich an den ersten militärischen Aktionen gegen die auf die Hauptstadt zumarschierenden Terroristen beteiligt hätte, hätte dies auch einen Schub in der Zusammenarbeit ausgelöst, in Sachfragen wie im persönlichen Bereich.
Daher wird es nun zwischen Berlin und Paris bis zu den Bundestagswahlen im Schneckentempo weitergehen. Zwischen Kanzleramt und Élysée, so ist zu hören, läuft zurzeit gar nichts, zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Quai d’Orsay immerhin der Routinebetrieb. Man telefoniert also noch.
Das ist nicht nur zu wenig, es ist gefährlich und bedeutet eine sträfliche Vernachlässigung des Aufbauwerks, das zwei Generationen in Deutschland und Frankreich auf vielfältige Art und Weise geleistet haben. Merkel und Hollande können damit Wahlen zu Hause gewinnen, aber sie versündigen sich seit geraumer Zeit gegen den europäischen Geist. Deutschland darf nicht nur zum Sparen aufrufen, es muss auch eine „certaine idée“ von Europa haben. Bei Merkel sieht man sie nicht.
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