Die Integrations-Staatssekretärin in NRW, Zülfiye Kaykın, stolperte über Unregelmäßigkeiten bei manchen Beschäftigungsverhältnissen von Sozialhilfeempfängern. Keine Kleinigkeit, aber auch kein Anlass für ein Scherbengericht.
Wenn ich zu den Gemüsehändlern in meinem Berliner Wohnbezirk gehe, verläuft das Geschäft entspannt. Es sind Deutsch-Türken, die vor allem meine Frau zuvorkommend behandeln und schon mal generös auf ihr Geld verzichten, wenn mal ein paar Cent am geforderten Betrag in meiner Geldbörse nicht auftauchen. Oder die Summe wird einfach abgerundet, wenn ein glatter Euro-Betrag knapp verfehlt worden ist. „Geben und Nehmen“ heißt die augenzwinkernde Devise und das ist gut so. In einem deutschen Geschäft kann ich eine derartige Behandlung nicht erwarten. Bestenfalls als Kind bekam ich mal die Scheibe Wurst umsonst.
Deutsch-Türken sind generell großzügig, sie sind wunderbare Gastgeber. Und wenn man mir jetzt, in diesen Spätsommertagen, von den großen Hochzeiten und den Familientreffen erzählt, die in den zurückliegenden Wochen in der Türkei stattgefunden haben, komme ich aus dem Staunen nicht heraus. Es sind für deutsche Ohren Märchenerzählungen, aber sie sind real: Man gibt, weil man gewohnt ist, auch zu bekommen, und man gibt reichlich.
Im Falle der nordrhein-westfälischen Staatssekretärin Zülfiye Kaykın, die in diesen Tagen ihren Job verloren hat, scheinen mir die Dinge ähnlich zu liegen. Oder anders gesagt: Ich halte ihren Hinauswurf für eine krasse Fehlentscheidung, die Signalwirkung haben könnte. Man wirft Frau Kaykın vor, während ihrer vorangegangenen Tätigkeit als Geschäftsführerin eines Moschee-Vereins Sozialhilfebetrug begangen zu haben. Es geht um relativ geringe Beträge, 1400 Euro an Sozialabgaben, die nicht abgeführt wurden und 3000 Euro, die ein Hartz IV-Empfänger mit dem Wissen der Ex-Staatssekretärin unrechtmäßig bezogen haben soll. Vertieft man sich weiter in die Vorgänge rund um den Moschee-Verein in Duisburg-Marxloh, wo Zülfiye Kaykın ihren steilen Aufstieg als Tochter eines Stahlarbeiters schaffte, riecht es nach Durchstechereien und Auseinandersetzungen zwischen diversen politischen Lagern der Deutsch-Türken.
Auch das Sozialamt knausert nicht immer
Aber noch einmal zurück zu den Beträgen, die die Staatsanwaltschaft veranlasst hatten, gegen Frau Kaykın vorzugehen: Der Zufall will es, dass ich am zurückliegenden Wochenende eine Meldung in der Zeitung entdecke, der zufolge ein Rechtsanwalt und sogenannter „Aufstocker“, also ein Jurist, der beruflich nicht gerade erfolgreich zu sein scheint, beim Jobcenter einen Flug nach Australien beantragte, um seine von ihm getrennt lebenden Kinder sehen zu können. Der Flug sollte über 6000 Euro kosten, und deswegen hat das Amt eine Kostenübernahme abgelehnt – Gott sei Dank, füge ich hinzu. Zu meinem Erstaunen lese ich aber weiter, dass im Prinzip Zuschüsse zu derartigen Fernflügen möglich sind. In Berlin machte vor einiger Zeit der Geschäftsführer der Treberhilfe, eines staatlich finanzierten Sozialhilfeunternehmens, Schlagzeilen, weil er einen Maserati als Dienstwagen fuhr und ein Jahresgehalt von 365 000 Euro bezog. Noch ist die Republik reich.
Damit bin ich zurück beim Fall der bedauernswerten Ex-Staatssekretärin, bei der sich, wie mir scheint, zwei Motivstränge gekreuzt haben könnten: Zum einen der aus der alten Heimat bekannte Wille, großzügig zu sein, wenn man es kann, zum anderen der Eindruck, in einem unglaublich wohlhabenden Land zu leben, in dem es auf den Cent und ein paar Euro nicht ankommt.
Somit wage ich zu behaupten, dass deutsche Staatsanwaltschaften und Gerichte, natürlich auch Landesregierungen – seien sie sozialdemokratisch oder christdemokratisch geführt- gegen die Wand laufen werden, wenn sie in das allgemeine Rechtsbewusstsein nicht auch die Mentalität und die Gewohnheiten neuer Minderheiten mit einbeziehen.
Kleinkarierte Paragrafenreiterei
Man spricht mitunter davon, dass Deutschland in den zurückliegenden Jahrzehnten ein mediterranes Land geworden sei. Das aber gilt nicht nur für die Stühle in den Straßencafés, sondern auch für die Menschen in ihren sozialen Kontexten. Im Rheinland, speziell in Köln, sagte man seit Jahrhunderten: „Man kennt sich, man hilft sich.“ Nichts anderes, so unterstelle ich einmal, hat Zülfiye Kaykın in ihrem Moschee-Verein getan. Sicher ist, dass die deutsch-türkische Gemeinschaft den Fall genau beobachtet, Freund wie Feind, und dass eine gemeinsame Schlussfolgerung aus ihm gezogen werden könnte, nämlich dass das reiche Deutschland ein sehr kleinliches Land ist.
Hilfreich für die Integrationsbemühungen ist der Fall sicher nicht. Wenn es nicht bei einigen Leuchtturmprojekten von Deutsch-Türken in der Politik bleiben soll, ist im Fall von Frau Kaykın ein Recht auf Irrtum und auf Einsicht in Notwendigkeiten angezeigt, nicht die Zustellung eines Strafbefehls mit allen bekannten Folgen. Vor allem wäre eine Entlassung aus ihrem Amt nicht erforderlich gewesen.
Deine Meinung