Ob Europa es wahrhaben will oder nicht: Seine alternden, satten Gesellschaften werden früher oder später sich mit Wanderungsbewegungen arrangieren müssen, die heute erst im Entstehen begriffen sind. Bewältigen lässt sich dies nur solidarisch.
Mit einem Paukenschlag hat der Präsident des Europäischen Parlaments eine neue Runde in der Diskussion über die Behandlung von Asylbewerbern und Flüchtlingen aus den politischen Erdbebenzonen unserer Welt eröffnet. Europa sei ein Einwanderungskontinent, sagte Martin Schulz vor wenigen Tagen.
Vermutlich liegt er mit dieser Aussage richtig. Aber die Befindlichkeit und Wahrnehmung der Europäer ist eine andere. Eine Mehrheit dürfte der Meinung sein, dass „das Boot voll“ wäre, dass man nur in besonderen Fällen Flüchtlingen aus Afrika oder Asien Asyl gewähren solle. Auch die Regierungen der deutschen Bundesländer und die Behörden der Städte verhalten sich dementsprechend, wie die Vorgänge in Hamburg gerade zeigen. Man verweist auf bestehende Gesetze und gerät dabei schnell in den Verdacht der Unmenschlichkeit. Die Entwicklungen verlaufen mit einer unglaublichen Rasanz. Flüchtlinge, die sich in der letzten Woche in Lampedusa an Land retteten, tauchen schon wenige Tage später in den großen Städten Europas auf, finden Unterstützer, suchen mediale Aufmerksamkeit, bekommen diese auch und schon geraten die politisch Verantwortlichen in Bedrängnis.
Was tun? Hier das Bekenntnis, der Wunsch, ein den Werten der Humanität verpflichteter Kontinent zu sein, dort die Weigerung, eine Flüchtlingsunterkunft am Rande eines Wohnviertels zu errichten, in dem weniger begüterte Menschen leben. Mit der Wahrheit nimmt man es dabei nicht genau, man argumentiert schon mal ziemlich willkürlich mit den Vorschriften der Bauordnung, der Hygiene und des Brandschutzes.
Die Schleusen haben sich längst geöffnet
Eine Überprüfung der Fakten, allen voran der Frage, wie viele Flüchtlinge gegenwärtig nach Europa kommen, ergibt rasch, dass die absoluten Zahlen nicht dramatisch sind, auch nicht an den Küsten Italiens. Deutschland ist in den Zeiten der Teilung und des Kalten Krieges mit ganz anderen Einwanderungsströmen fertig geworden. Es lag und liegt aber auch nicht an der Grenze von der Ersten zur Dritten Welt. Insofern darf man den Italienern nicht vorwerfen, sich angesichts der Bootsflüchtlinge unmenschlich oder gleichgültig zu verhalten. Denn allein ist unser südliches Nachbarland mit der Angelegenheit überfordert.
Was fehlt, ist eine offene Diskussion über die neue Lage und eine europäische Antwort auf den Ansturm aus Afrika und dem Nahen Osten, der weiter anhalten und nicht abebben wird. Denn mit dem Abgang der autokratischen Herrscher in Libyen, in Tunesien und der Bürgerkriegssituation in Syrien haben sich die Schleusen geöffnet.
Die Europäer haben nicht mehr die Gesprächspartner, die sie bis vor kurzem besaßen, um die Ströme aus dem Inneren von Afrika und Asien zu Rinnsalen schrumpfen zu lassen. Stattdessen werden immer mehr Staaten in Afrika instabil und setzen Menschenmassen in Bewegung, die in Größenordnungen von vermutlich mehr als 10 Millionen Flüchtlingen in den Wüsten und Savannen Afrikas umherirren. Soll und kann sich Europa ihrer erbarmen und versuchen, mit einem großen Schnitt das Elend zu beseitigen? Soll es auf diese Weise noch einmal Abbitte dafür leisten, dass es sich in einer Phase kurzsichtiger Kolonialpolitik Afrika und Teile Asiens zum Untertanen machte?
Wohl kaum. Aber der Präsident des Europäischen Parlaments hat indirekt einen wichtigen Punkt angesprochen: Europa braucht Solidarität, um mit der Flüchtlingsproblematik fertig zu werden. Nur dann lässt sich vermeiden, dass das überforderte Italien seine Flüchtlinge mit ein paar Euros ausstattet, damit diese in die „reicheren“ Länder Nordeuropas, allen voran Deutschland, weiterreisen. Solidarität heißt in letzter Konsequenz aber, den politischen Zusammenschluss des Kontinents voranzutreiben.
Wer bei der Flucht den Kontinent wechselt, bleibt
Seit den Zeiten des Vietnamskriegs ist es nicht mehr gelungen, Flüchtlinge aus in instabil gewordenen Staaten in unmittelbarer Nachbarschaft unterzubringen, was natürlich viel kostengünstiger wäre und die Chance erhöhen würde, dass die Menschen eines Tages in die Heimat zurückkehren könnten.
Begeben sich die Flüchtlinge stattdessen auf den Weg in andere Kontinente, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie dort auch bleiben werden. Europa – aus größerer Distanz betrachtet – entwickelt sich unter solchen Umständen immer mehr zu einem Kontinent, der sich der amerikanischen Gesellschaft mit ihren vielen Einwanderergruppen annähert.
Wenn diese Entwicklung nicht aufzuhalten ist, wofür eine Menge spricht, sollten die Staatsmänner Europas aktiv werden und versuchen, diesen Prozess so gut es geht aktiv zu steuern. Denn das Mittelmeer ist nun nur noch so breit wie der Bosporus.
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