Vor einigen Tagen saß ich in München in einem Café, neben mir ein jüngerer, italienisch aussehender Mann mit seinem Sohn. Unsere Blicke kreuzten sich, ich spürte ein Interesse, zu akzeptierende Neugier, irgendwann kamen wir miteinander in ein sehr nettes, lebhaftes Gespräch. Der Mann stellte sich als ein Deutscher türkischer Abstammung heraus. Er war Unternehmer. Sehr schnell landeten wir bei unseren Familiengeschichten. Ich fragte ihn nach der türkischen Region, aus der seine Eltern einst nach Westen aufgebrochen waren und mein Tischnachbar erzählte mir, dass die Familie eigentlich aus Bagdad komme. Und ein wenig stolz fügte er hinzu, dass sie vom Kalifen Ali, einem Cousin des Propheten, direkt abstamme.
Deutschland, ich habe diese Auffassung schon wiederholt vertreten, hat viele Stärken, aber wie alle anderen Staaten auch, die eine oder andere Schwäche. Eine davon ist fehlendes Selbstbewusstsein, Schwanken zwischen Drohgebärde und Zurückweichen im Ernstfall. Wenn mich der Eindruck nicht täuscht, hat der türkische Präsident Recep Tayyib Erdoğan diese Spannweite an Verhaltensmöglichkeiten ziemlich genau erkannt.
Auf der Suche nach Gründen komme ich zu dem Schluss, dass sie tief in der deutschen Geschichte liegen. Jahrhundertelang bestand Deutschland aus einer nahezu unüberschaubaren Anzahl von Kleinstaaten, während das Osmanische Reich von Bosnien bis nach Ägypten reichte. Die deutsche Schwäche nutzten andere Mächte aus, das Land war oft genug Schauplatz von Kriegen, die die großen europäischen Mächte gegeneinander führten, am schlimmsten im Dreißgjährigen Krieg. Noch wichtiger ist in meinen Augen der Umstand, dass sich Deutschland von einer ganz kurzen Phase abgesehen am großen Wettlauf der Europäer um Kolonien nicht beteiligte. Nur im Zeitraum von 30 Jahren war das deutsche Kaiserreich zwischen 1884 und 1914 am Erwerb von Kolonien beteiligt. Die Spuren dieser Zeit lassen sich noch heute in Ost- und Westafrika besichtigen. Denn die Deutschen waren gründlich, sie bauten Rathäuser, Postämter und Eisenbahnen.
Deutsche und Deutschtürken sind sich in der letzten Woche auf Augenhöhe begegnet, eine wichtige Feststellung in unruhigen Tagen, in denen die Schreckensmeldungen aus Paris und aus dem belgischen Verviers zu uns herüberschwappten. Weniger sind damit die sichtlich bemühten Ausführungen des türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu bei seinem Berlin-Besuch und einem Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen gemeint, in dem es auch um die Pressefreiheit in der Türkei und um die Gülen-Bewegung ging. Sie können aufgrund der Vergleiche nur ungläubiges Kopfschütteln hervorrufen, vor allem bei den journalistischen Berufskollegen, die wegen ihres Mutes zur Wahrheit im Gefängnis sitzen. Aber auf der anderen Seite haben wir in diesen Tagen auch gesehen, was Zivilcourage und untergehaktes Demonstrieren in der Öffentlichkeit bewirken können. „Entscheidend ist, dass wir miteinander reden“, sagte mir eine junge Deutsche mit türkischen Wurzeln, die sich seit Jahren um den Dialog der Kulturen im Großraum Mannheim bemüht.
Ohne die fortdauernden Risiken kleinreden zu wollen, lässt sich feststellen, dass in Deutschland ein anderes öffentliches Meinungsklima als in Frankreich herrscht. Dort kommt Vieles zusammen: das nicht bewältigte koloniale Kapitel der Franzosen in Nordafrika, die Probleme der Eingliederung der „weißen“ Algerien-Rückkehrer seit den 1960er Jahren, die nachfolgende massenhafte Zuwanderung von Muslimen und ihre unzureichende Unterbringung in den Wohnmaschinen der französischen Vorstädte, enorme Jugendarbeitslosigkeit und das Aufeinandertreffen auf die größte jüdische Minderheit Europas, bei dem von der einen Seite die Parolen und Kampfbegriffe des Nahen Ostens, verbunden mit wachsender, unakzeptabler Gewalt eingesetzt werden.
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Weihnachten, normalerweise das große, besinnliche Familienfest, wird für viele Menschen in diesem Jahr einen anderen Verlauf nehmen. Sie müssen sich Sorgen machen. Denn zu den Ländern, aus denen beunruhigende Nachrichten kommen, zählt seit Neuestem auch die Türkei. Die Zukunft unabhängiger Medien steht dort auf dem Spiel, die Jobs der Kollegen sind in Gefahr, eine nicht unbeträchtliche Zahl von türkischen Journalisten wird sich über Weihnachten im Gefängnis befinden, unter ihnen Menschen, denen ich in den letzten Jahren begegnet bin. Ich teile mit ihnen das Verständnis von unserem Beruf, ich sehe die Welt wie sie. Und ich weiß aus der deutschen Erfahrung, dass der Verlust der Pressefreiheit in der Regel schwerwiegende Konsequenzen hat.
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Für die Deutsch-Türken, im Grunde genommen für alle Einwanderer der letzten Jahrzehnte, war der 9. November 2014, der 25. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer, nicht ganz einfach zu verstehen. Die Mehrheitsdeutschen waren weitgehend unter sich, man feierte einen nationalen Gedenktag, den schönsten Tag in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Die Neuhinzugekommenen blieben – von Ausnahmen abgesehen – außen vor. Besonders ausgelassen feierte man in den Berliner Stadtteilen, in denen der Verlauf der Mauer durch eine Lichterkette markiert worden war.
Wie ist dieses „nationale“ Freudenfest, das den Neuen nicht ausschließt, aber eben auch nicht ganz einschließt, zu erklären? Ich glaube, es hat eine Menge mit der Verspätung der Ostdeutschen zu tun, Teil der Nation zu werden, an ihrem Wohlstand zu partizipieren und Frieden mit der der Geschichte zu machen. Denn es waren die Ostdeutschen, die vor allem für die katastrophal verlaufene Geschichte zwischen 1933-1945 bezahlt haben, die jahrzehntelang zu den unterdrückten Völkern Osteuropas gehörten, bis sie endlich die Freiheit erlangten, voran die Freiheit, zu reisen. Würde man unter den heutigen Ostdeutschen zwischen 25 und 55 eine Umfrage machen, würde sich herausstellen, dass sie mehr als die Westdeutschen gereist sind, dass sie wie im Rausch das nachgeholt haben, was ihnen lange Zeit verwehrt war. „Ich habe fest daran geglaubt, eines Tages London und Paris zu sehen“, sagte mir dieser Tage eine Galeristin aus Potsdam.
Das Ambiente war bescheidener als letztes Jahr, das Hotel näher zum Berliner Hauptbahnhof gelegen als zum Bundeskanzleramt, wie der Beiname nahelegte, umso besser war die Stimmung. Man kann sagen, der Deutsche Dialogpreis ist mit der zweiten Vergabe in der Hauptstadt angekommen.
Mehrere Ursachen trugen dazu bei: der Veranstalter, der Bund Deutscher Dialoginstitutionen (BDDI) hatte ein glückliches Händchen bei der Auswahl der Preisträger bewiesen, die Einspielfilme, in denen die Geehrten porträtiert wurden, „saßen“, die Lobreden waren gut, und schließlich schwang sich der Moderator des Abend nach anfänglicher Nervosität zur Höchstform auf. Derartige Auftritte hätte man gern im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Schließlich, auch ein Hinweis darauf, dass der Preis „angekommen“ ist: die Deutsch-Türken, die Fethullah Gülen nahestehen, sind nicht länger mit einem überschaubaren Freundeskreis unter sich, die Mehrheitsgesellschaft ist neugierig geworden, die breite Zusammensetzung der Abendgesellschaft zeigte dies an.
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Die Freunde und Anhänger von Fethullah Gülen haben zweieinhalb Jahre hinter sich, die es in sich hatten. Ein polemischer SPIEGEL-Artikel im Sommer 2012 hatte eine Flut von Beiträgen im Fernsehen, im Hörfunk und in Tageszeitungen zur Folge, gegen die die Dialogvereine, die Schulen und im öffentlichen Rampenlicht stehende Personen und Unterstützer mit Mühe ankämpften. Von einer Geheimorganisation, von einer Unterwanderung der Gesellschaft mit dem Ziel, Deutschland in eine islamische Republik zu verwandeln, war die Rede. Interessanterweise beteiligten sich die beiden führenden deutschsprachigen Tageszeitungen nicht an diesem Kesseltreiben: die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Neue Zürcher Zeitung.
Spätestens im zurückliegenden Sommer wurde deutlich, dass sich die Kampagnen mit Text- und Bildmanipulationen, mit Zitat-Fälschungen und unrichtigen Behauptungen erschöpft haben. Und dafür gibt es drei Ursachen: die veränderte Situation in der türkischen Innenpolitik, die eine differenziertere Betrachtungsweise erfordert, das Erscheinen von wissenschaftlichen Beiträgen und Büchern über die Rolle der Gülen-Bewegung in Deutschland, voran eine Studie der renommierten Denkfabrik ‚Wissenschaft und Politik‘ (SWP) in Berlin und schließlich die erlösende Nachricht aus Stuttgart, dass die Gülen-Bewegung vom Verfassungsschutz nicht beobachtet werde. Es gebe keinen Grund dazu.
In den Tagen des letzten Gaza-Krieges sind bei einer Demonstration in Berlin Parolen skandiert worden, gegen die die Polizei sofort hätte vorgehen müssen. Es waren unfassbare antisemitische Slogans, wie sie in Deutschland seit 1945 nicht mehr zu hören waren. Und solche dürfen auch dann nicht fallen, wenn die Emotionen hoch gehen. Denn sie haben mit dem aktuellen Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern, zu dem man sehr unterschiedliche Meinungen haben kann, nichts zu tun.
Mit einigen Wochen Verspätung kam es nun am Wochenende zu einer Gegendemonstration unter dem Motto: „Steh auf – nie wieder Judenhass“, bei der die Bundeskanzlerin eine Rede hielt. Angela Merkel verurteilte dabei mit deutlichen Worten nicht nur die Hassparolen, die im Rahmen der Demonstrationen skandiert worden waren, sondern auch Übergriffe auf Kippaträger im Alltag und die Schändung von Friedhöfen und Synagogen.
„Mit dieser Kundgebung machen wir unmissverständlich klar: Jüdisches Leben gehört zu uns. Es ist Teil unserer Identität und Kultur“, äußerte die Kanzlerin und verurteilte im Namen der gesamten Bundesregierung Judenfeindlichkeit in Deutschland und Europa sowie antisemitische Äußerungen und Übergriffe.
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Zugegeben, wir leben in einer Zufallsbeziehung. Gewiss, da gibt es eine Geschichte deutsch-türkischer militärischer Zusammenarbeit, vor 100 Jahren auch „Waffenbrüderschaft“ genannt, aber davon wissen die Deutschen nur wenig, und die Deutschtürken haben gemerkt, das man besser an diese Zeiten nicht erinnert. Wenig bekannt ist auch, dass die Türkei nach 1933 ein Zufluchtsort für vom NS-Regime bedrängte Persönlichkeiten war, unter ihnen der spätere Regierende Bürgermeister von Berlin Ernst Reuter.
Der Zufall hat sich im Laufe der 50 Jahre, in denen es eine Einwanderung nach Deutschland aus der Türkei gibt, strukturiert. Die Kinder der Gastarbeiter haben gelernt, ihre Vorstellungen und Wünsche zu artikulieren, das Schweigen der Väter zu durchbrechen, und die Enkel aus der dritten Generation, die sich in bemerkenswerten Zahlen von den Lehren Fethullah Gülens angesprochen fühlen, haben den Weg an die Spitze der deutschen Arbeitsgesellschaft geschafft, oder anders formuliert, der Wissens und Ausbildungsvorsprung der vergleichbaren Gruppe der Mehrheitsgesellschaft ist aufgeholt.
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